Heyne Hardcore / ISBN: 978-3-453-27392-4
Übersetzung: Kristof Hahn
Text: Torsten Sarfert
Auf der Insel ist er so etwas wie eine Kultfigur. Eine Ikone. Bobby Gillespie, Multiinstrumentalist und Sänger der schottischen Band Primal Scream, den Begründern des Acid House. Hierzulande können sich ältere Semester vielleicht gerade noch an das Werk mit dem quietschbunten Cover, das wegbereitende Album „Screamadelica“ erinnern. Veröffentlicht am 23. September 1991, zeitgleich mit Nirvanas „Nevermind“. Vielleicht auch ein Hinweis darauf, warum Primal Scream jenseits des grossen Teichs musikalisch eine eher untergeordnete Rolle spielten. Auf dem europäischen Kontinent erging es Gillespie und Co. nicht besser, von ein paar Achtungserfolgen abgesehen. „Screamadelica“ markierte dennoch den Beginn der bis heute andauernde Karriere von Primal Scream, respektive der des Bobby Gillespie.
Umso verwunderlicher, dass die nun in deutscher Übersetzung vorliegende Biografie „Tenement Kid“ exakt an diesem Tag, der gemäss Bobby „für manche Leute der Tag ist, an dem die Neunziger wirklich begannen“, endet. Irritierenderweise fand der Primal Scream-Erstkontakt für den Autor dieser Zeilen auch erst mit dem Nachfolgealbum „Give Out But Don’t Give Up“ statt.
Es geht Bobby Gillespie mehr um seine musikalischen und sozialen Wurzeln, und den Weg hin zum Meilenstein der Pop-Geschichte. Der Schwerpunkt liegt auf den sozialen Verhältnissen, aus denen der Protagonist kommt. Aufgewachsen in einer Glasgower Mietskasernengegend („Tenement“) der Sechziger- und Siebzigerjahre erzählt Gillespie von den prekären Umständen, denen er und seine Familie jahrzehntelang ausgesetzt waren. Anfangs ohne eigene Wohnung, nachts bei wechselnden Freunden auf dem Fussboden schlafend, später die eigene Wohnung ohne Heizung und fliessend Wasser. Der normale proletarische Wahnsinn im Nachkriegsengland. Daher und vom verehrten Vater – einem glühenden Sozialisten und Gewerkschaftler – hat Gillespie seine bis heute kompromisslose politische Einstellung und den Geist der Arbeiterklasse. Natürlich kommen in diesem Zusammenhang die essenzielle Rolle des Fussballs im Allgemeinen und die Rivalitäten der beiden Glasgower Clubs im Besonderen nicht zu kurz.
Es folgt die beinahe klassische Geschichte von der sinnstiftenden musikalischen Erweckung, diesmal durch Helden wie Marc Bolan, David Bowie, den überlebensgrossen Sex Pistols und den nicht minder verehrten The Clash. Dann Anfang der 80er Einstieg ins Musikbusiness als Roadie für die kurzlebige New Wave Band Altered Images und später Drummer für Jesus And The Mary Chain. Dazwischen ausführliche Bekleidungstipps für den modebewussten „20th Century Boy“ und interessante, historische Playlists. Nicht zu vergessen die obligatorischen und ebenfalls ausführlichen Drogengeschichten, nachdem die Karriere mit den frisch gefundenen Kumpels etwas Fahrt aufgenommen hat. Aber gut, irgendwie wird man nicht von ungefähr zum Wegbereiter des Acid House.
Das ist alles unterhaltsam erzählt, verliert sich über die Länge aber zu sehr in Details, Wiederholungen und Name-Dropping. Zumal dies nicht die erste Biografie aus dieser Zeit und Umgebung ist. Bei über 500 Seiten für die ersten 30 Lebensjahre unseres Helden hätte man straffen können und sollen. So fühlt sich „Tenement Kid“ für mich ein bisschen wie ein überlanger, vernebelter Dubmix eines guten Stückes an, den man gerne mal auf doppelte Geschwindigkeit schalten möchte. Auch auf die Gefahr hin, dass man den ein oder anderen musikalischen Geistesblitz überhört.