Band: Sophie Hunger
Album: Halluzinationen
Genre: Singer-Songwriter / Pop / Electronica
Label: Caroline International
VÖ: 4. September 2020
Webseite: sophiehunger.com
Halluzinationen sind flüchtige, wimpernzuckende Schräglagen in denen unterbewusst die bewusste Frage auftaucht ob eben Gesehenes, Gehörtes oder Gefühltes, Tatsächlich wa(h)r oder doch nur nanosekundenschwindelnder synaptischer Irrsinn unseres Wahrnehmungszentrums im Diesseits ist. Dass Sophie Hunger ihrem siebten Studioalbum eben jenen Namen gab war wohl nicht der Zufälligkeit geschuldet. Die Inspirationen entstammen dem Unterbewussten und den diffusen, halbdunklen Kellereingängen in versteckten Winkellokalitäten die umso dunkler die Berliner Nächte desto heller scheinen.
So experimentiert das Expat der Schweizer Musikszene konsequent und sehr ungeschönt auf dieser neuen, und ebenfalls ungeschönt, sehr grossartigen Scheibe. Waren bei ihrem Vorgänger „Molecules“ vor allem die englische Eintracht im simplen Electro-Pop-Versuchsmodell, so ist es nun die Art der Aufnahme die ins Zentrum rückt. Die ganze Platte wurde im One-Take-Verfahren aufgenommen. Heisst konsequenterweise, alles muss live sein. Nachträgliche Änderungen weder an der Reihenfolge der Songs noch an der Ästhetik sind erlaubt. Genau diese ungeschminkte Wahrheit gibt den Halluzinationen diese verschwommene Farbenpracht. Ganz ohne Make-Up muss das Album unbedingt am Stück gehört werden, sind es doch die beinahe unsichtbaren Momente zwischen den Stücken die als Extravaganza verkleidet verzücken.
Genau diese ungehörten Wechsel geben jedem Stück seine Einzigartigkeit und führen hinüber zum flüchtig scheinenden Trip. Wenn sich das leicht geisterhafte und jazzige „Liquid Air“ elektronisch gespickt in die zwiespältige Gedankenwelt von „Finde mich“ ergiesst welches sich durch schmale Instrumentalisierung und hallenden Echos sowie der Auseinandersetzung mit der Heimat auszeichnet, könnte man sich in der Dramaturgie schon verlieren, würde nicht gleich das Titelstück die Seele wieder entreissen. Gehackte Szenen, Pianopatterns übergehen in Synth’s und der eigenartige Sprech-Sing-Gesang wühlt im Innern.
Diese Wechsel sind überaus faszinierend werden von der einen oder anderen Schräglage umgarnt und überspitzen sich schliesslich im Dreiergespann „Alpha Venom“, „Rote Beeten aus Arsen“ und „Everything Is Good“. So gibt „Alpha Venom“ Gas in einem schrillen Gezerre im Uptempo, in welchem die Gitarre im Alleingang regelrecht malträtiert wird um dann mit einem Sprung in der Platte endlos zu enden. Nach meiner Vermutung ein Ausblick in das zukünftige Werk. Die Notbremsung ist überaus aufprallend – gar zerschellend. Folgt doch aus dem Nichts eine elend gute Ballade in welcher die Hunger der deutschen Frau den Spiegel nicht nur ins Gesicht drückend vorhält, sondern gleich auf dem zarten Gemüt zertrümmert. Die Hundertschaft Scherben die hier textlich brechen potenzieren die nackte und zermürbende Wahrheit des Gesungenen nochmal ins Tausendfache. All das um gleich darauf im superpopigen „Everything Is Good“ vergnüglich zu feiern. Scheinbar dem leicht angetrunkenen Sommerlagerfeuertänzeln gewidmet. Schiere Schizophrenie, astrein erlebbar in den mikroskopisch zeitlosen Dazwischen.
Wer hat da noch ein Gehör für die Minuten dazwischen die mit einem Strauss an Musik der ganzen bisherigen Künstlerjahre geschmückt sind. So findet auf „Halluzinationen“ jeder seine Sophie Hunger, verbunden in der ewig etwas schweren Sehnsucht welche tief im Innern jedes Stücks nur geahnt mal sterbend mal mit zaghafter Zuversicht pocht. Debütanten nimmt „Alpha Venom“ in den Bann und das sanftmütig und bezaubernd drückende „Maria Magdalena“ fesselt für immer. Für Liebhaber des Vorgängers „Molecules“ wiederum ist „Halluzinationen“ die konsequente Weiterentwicklung und „Security Check“ ein sanfter Nachhall von vor zwei Jahren. Für jene die den frühen Jahren der Künstlerin zugetan sind, ist es eine Rückkehr zu den Wurzeln.
Die Variabilität der Sprachen ist wieder zu hören, wenngleich nur Englisch und Deutsch und nicht halb Europa. Der Singer-Songwriter-Geniesser findet seine Gemütlichkeiten ebenso gut wieder wie der philosophische Hörer, dem die überspitzte Wahrheit und die ironisch-derbe Wortkunst so gefällt. Wenn sich da nicht schon bei „Rote Beeten aus Arsen“ die Studierereien überschlagen dann sicher in „Stranger“ ganz am Ende. Eine gefühlte Stille aus Piano und Stimme, endend in der Hoffnung – dem offensten und unverfänglichsten Wort von allen.
Tracklist:
1. Liquid Air
2. Finde mich
3. Halluzinationen
4. Mad Medication
5. Alpha Venom
6. Rote Beeten aus Arsen
7. Everything is Good
8. Maria Magdalena
9. Security Check
10. Stranger
Bandmitglieder:
Sophie Hunger
Text: Sebastian Leiggener