Second Unit – Die Filmkolumne
Text: Michael Bohli
Willkommen zur ersten Ausgabe einer neuen, unregelmässig erscheinenden Kolumne bei ARTNOIR. Mit Second Unit könnt ihr ab sofort in die weiten Welten des Films eintauchen. Nischenproduktionen, einheimische Werke, vergessene Klassiker oder aktuelle Blockbuster – Grenzen gibt es für diese Beitragsreihe genauso wenige, wie für die Welt der bewegten Bilder selber. So bilden für einmal nicht die Klänge den Mittelpunkt, sondern das audiovisuelle Vergnügen. Das soll zu Diskussionen, der Erweiterung des Horizonts und natürlich Kinobesuchen anspornen.
Wieso aber Second Unit? Der Begriff stammt aus der Arbeitswelt des Filmes und bezeichnet die zweite Arbeitsgruppe, welche bei den Dreharbeiten Material einfängt und zusätzliche Szenen schiesst. Dies dient nicht nur zur Entlastung des Regisseurs, sondern widmet sich oft den trickreichen Action- oder Stuntaufnahmen. Zwar ohne die grossen Stars im Scheinwerferlicht, aber dafür mit handwerklicher Finesse und ebenso viel Herzblut. Es müssen schliesslich nicht immer die grossen Namen besprochen werden, das wird sich auch in dieser Reihe hier zeigen.
Den Anfang machen wir mit Ash Is Purest White aus China, Pity aus Griechenland und der aktuellen Dokumentation Push aus Schweden. Film ab!
Ash Is Purest White
Regie: Jia Zhangke
Land, Jahr: China, 2018
Die Bevölkerung von China kann man nicht nur in diverse Schichten aufteilen, immer wieder müssen sich die Bewohner des Landes den Veränderungen und Launen der Regierung fügen. Mit „Ash Is Purest White“ zeigt der talentierte Filmemacher Jia Zhangke, was dies auf persönlicher Ebene bedeuten kann. Während fast zweieinhalb Stunden begleitet man im grossartig geschossenen Film Zhao Qiao, welche mit Guo Bin, einem Verbrecher der Jianghu zusammen ist. Durch missliche Umstände wird Qiao für fünf Jahre ins Gefängnis gesperrt und versucht, ihr Leben und ihre Liebe nach der Strafe wieder zurückzuerhalten.
„Ash Is Purest White“ zeigt diese Versuche nie mit Klischees oder platten Emotionen, sondern verbindet als Lehrstück über die chinesische Veränderung drei Abschnitte und fast 20 Jahre. Der wirtschaftliche Aufschwung der Nullerjahre, die staatlich gesteuerte Expansion, die Vereinsamung auf dem Land, das organisierte Verbrechen – in packenden Szenen und in perfekt ausgearbeiteten Bildern behandelt der Film mehr als nur das Innere. Genial gespielt von Zhao Tao in der Hauptrolle, ist dies ein menschliches Epos mit viel Weitsicht und Langzeitwirkung.
Spielzeiten findet man bei Cinefile.
Pity
Regie: Babis Makridis
Land, Jahr: Griechenland, 2018
Website: outside-thebox.ch
Spätestens seitdem die Filme von Giorgos Lanthimos („The Lobster“, „The Favourite“) weltweit auf Anerkennung stossen, darf man wieder von einer neuen Welle der verrückten Filme aus Griechenland sprechen. Mit „Pity“ beweist Babis Makridis, dass die Szenerien des südeuropäischen Landes und dessen zerrüttete Politik eine massgeschneiderte Kulisse für Absurditäten bieten. Wie ein Kammerspiel oder Theater inszeniert, mit starrer Kamera, hölzernen Dialogen und Texttafeln, wird die Geschichte eines Mannes dargeboten, der sich ohne Trauer im Leben nicht mehr zurechtfindet.
Von Anfang ist dabei klar, dass der namenlose Anwalt (gespielt von Yannis Drakopoulos) zu drastischen Mitteln schreiten wird, als seine Frau doch wieder aus dem Koma erwacht. Wobei sich die Macher von „Pity“ viel Zeit lassen und den Film schon fast schleppend entfalten. Erst in den letzten Minuten überschlagen sich die Ereignisse, und zwar so extrem, dass man den Kinosaal geschockt verlässt. Das passt zu der lakonischen und bitterbösen Art, wie diese Geschichte dargestellt wird, wenn es auch manchmal etwas die Tiefe vermissen lässt. „Pity“ dient weniger als psychologisches Abbild von Griechenland, sondern mehr als merkwürdiges Kabinettstück zwischen glänzenden Oberflächen und zerschnittenen Geistern.
Spielzeiten findet man bei Cinefile.
Push – Für das Grundrecht auf Wohnen
Regie: Fredrik Gertten
Land, Jahr: Schweden, 2019
Website: pushthefilm.com
Seid ihr in letzter Zeit einmal durch die grösseren Städte der Schweiz, Europa, der Welt spaziert und habt euch gefragt, wieso sich eigentlich immer alles so schnell verändert, wieso plötzlich gewisse Viertel herausgeputzt dastehen und wohin die Untergrundkultur immer flüchten muss? Dann ist der neue Dokumentarfilm „Push“ von Fredrik Gertten genau die richtige Antwort. In diesem wichtigen und eindrücklichen Streifen werden die Problematiken von Stadtflucht, Gentrifizierung und besonders Spekulation und Vermögensinvestition in Liegenschaften untersucht.
Man begleitet Leilani Farha, UN-Sonderbotschafterin für das Grundrecht auf Wohnen, bei ihrer Arbeit in London, Toronto, Barcelona, New York und weitere, schaut dabei dem Immobilienmarkt in den Rachen und versucht, zwischen Verzweiflung, Angst und Wut die Ungerechtigkeiten rational anzugehen. „Push“ gelingt es, die Thematik verständlich und klar zu gliedern und mit Einzelschicksalen divers abzudecken. Ob das Drama und den Grenfell Tower oder die prekären Zustände in Kanada, mit Interviews und Diskussionen wird die Menschlichkeit hinter den Tragödien gesucht und auf mögliche Wege in eine bessere Zukunft hingewiesen.
Praktisch nie wird dabei moralisch den Zeigefinger erhoben, sondern die weltweite Situation in ihrer brutalen Gestalt offenbart. Besonders in der heutigen, politischen Diskussion ist ein solcher Film wichtig, dient er nämlich als weiteres Puzzleteil in dem ewigen Ringen zwischen „Endkonsument“ und globalen Wirtschaftsmächten. Support Your Local Dealer!
Spielzeiten findet man bei Cinefile.