Band: The National
Album: I Am Easy To Find
Genre: Indie
Label: 4AD
VÖ: 17. Mai 2019
Webseite: americanmary.com
Ein Mensch hat verschiedene Facetten, man könnte durchaus auch sagen verschiedene Identitäten. Und wenn in der Kunst ein Menschenleben dargestellt wird, beispielsweise das einer Frau, dann kann dies von anderen Menschen verschieden interpretiert werden. Die eigene Konstruktion der Realität ist einer der spannendsten Aspekte in der Entwicklungspsychologie. Ein Menschenleben so darzustellen, dass es möglichst viele andere berührt, anspricht oder abbildet, das kann Kunst leisten. Mike Mills hat dies in seinem Kurzfilm “I Am Easy To Find“ versucht. Und ob es ihm gelungen ist, von dem kann man sich sein eigenes Bild machen. Alicia Vikander spielt diese Frau und der Kniff ist, dass sie alle Altersphasen darstellt: vom Baby bis zur alten Frau. Es ist die perfekte Besetzung. Nur singen tut sie auf dem neuen Album von The National nicht, dafür hat sich die Band Hilfe von diversen anderen Gastsängerinnen geholt. Ihre achte Platte ist das Resultat einer Kollaboration mit Mills und mitnichten ein Soundtrack, sondern es sind zwei Projekte, die sich gegenseitig inspiriert haben und denselben Namen tragen.
“I Am Easy To Find“ nimmt sich viel Zeit und mit dieser lernt man das Album schätzen. Es wirkt zu Beginn lang und ereignisarm, scheint zu viele Gastsängerinnen zu haben. Man könnte relativ schnell abwinken, sich daran erinnern, dass der Vorgänger “Sleep Well Beast“ nach grossartigen Werken bereits etwas zu langatmig geworden ist, und konstatieren, dass The National nun definitiv verzichtbar geworden sind. Respekt gegenüber Musik erwächst aber meist über die etwas tiefere Auseinandersetzung mit ihr – selbst wenn sie einem danach immer noch nicht gefällt. “I Am Easy To Find“ braucht dieses Vertiefen mit dem Konzept, das Schauen des Kurzfilms von Regisseur Mills hilft dafür und wenn man das leider sterbenslangweilige “Not In Kansas“ skippt, bekommt das Album einen Sog, den “Sleep Well Beast“ vermissen liess.
Es beginnt noch vergleichsweise beschwingt, zieht einen aber spätestens in “Roman Holiday“ das erste Mal unter die Wasseroberfläche. Das beste Duett gelingt Matt Berninger mit Gail Ann Dorsey in “Hey Rosey“, einem Song, der aus dem starken Kollektiv heraussticht. Die vielen Stimmen stehen für die verschiedenen Identitäten einer Person und machten ein entsprechend anderes Songwriting nötig. Dass The National nach so vielen Jahren immer wieder den Mut zur Veränderung finden, hat besagten Respekt verdient, auch wenn der Zugang nicht immer einfach ist. Zum Beispiel wenn in “Dust Swirls In Strange Light“ der Brooklyn Youth Chorus Zitate aus dem Kurzfilm singt und danach ein vertrackter Beat in eine Art Freejazz mündet.
Der Grund, warum man hineingezogen wird, ist das Existentielle in der Musik von The National, das einige als prätentiös bezeichnen und hier sicher auf die Spitze getrieben wird. Aber das Leben ist nun mal voll mit Pathos und es ist mehr als bloss bewusste Erinnerungen. Es sind Beziehungen, Gefühle, Erfahrungen, Identitäten, Veränderungen und – das kommt auch im Kurzfilm schön zur Geltung – Wiederholungen. Mike Mills wählt Momente aus dem Leben dieser Frau, die existentiell sind und er macht das Gleiche mit den Songs von “I Am Easy To Find“: Es sind die wichtigsten Passagen und wenn man diese kompakt zusammenfasst, dann realisiert man, wie toll sie geworden sind.
Tracklist:
1. You Had Your Soul With You
2. Quiet Light
3. Roman Holiday
4. Oblivions
5. The Pull Of You
6. Hey Rosey
7. I Am Easy To Find
8. Her Father In The Pool
9. Where Is Her Head
10. Not In Kansas
11. So Far So Fast
12. Dust Swirls In Strange Light
13. Hairpin Turns
14. Rylan
15. Underwater
16. Light Years
Bandmitglieder:
Matt Berninger – Gesang
Aaron Dessner – Gitarre, Bass und Klavier
Bryce Dessner – Gitarre und Klavier
Scott Devendorf – Bass und Gitarre
Bryan Devendorf – Schlagzeug
Gründung:
1999
Text: Michael Messerli