Universal Music / VÖ: 16. Juni 2023 / Folk, Americana
mellencamp.com
Text: Torsten Sarfert
John Mellencamp, der Mann aus Seymour, Indiana, der bis Ende der 1990er Jahre immerhin einige Top 100 Hits in Europa hatte, veröffentlicht ohne grosses Brimborium sein neues, mittlerweile 25stes Album „Orpheus Descending“. Seine kontinuierlich, konsequente Weiterentwicklung und Fokussierung auf seinen ganz eigenen Stil ging zu Lasten weiterer nennenswerter europäischer Chartplatzierungen, bescherte ihm aber eine Integrität (und Gastauftritte von Bruce Springsteen auf seinem letztem Album), welche im heutigen Rock-Dinosaurier Zirkus nur selten vorzufinden ist. Neben einem Grammy und vielen weiteren renommierten Auszeichnungen erhielt Mellencamp 2003 den Woody Guthrie Award, was seine Entwicklung wohl am besten widerspiegelt. Nämlich die eigene Definition amerikanischer Folk- und Bluesmusik mit Themen wie Religion, (Waffen-)Gewalt, Rassismus und sozialer Ungerechtigkeit. Dabei eckt der passionierte Maler mit seinen klaren politischen Positionierungen oft sowohl bei seinen eigenen Fans als auch in der Industrie an.
Das scherte den „Little Bastard“ aber noch nie und so nimmt er auch auf dem neusten Werk kein Blatt vor den Mund. Gleich auf dem Opener „Hey God“ fordert er mit kratziger Stimme und blecherner Dobro den Allmächtigen dazu auf, herabzusteigen und sich den ganzen Scheiss doch mal anzugucken, den hier unten schon lange niemand mehr aushalten kann. Das ist nicht der Stoff, den gewöhnliche Country-Fans hören möchten. Genauso wenig, wie in „The Eyes Of Portland“ auf emotionale Weise das strukturelle Problem der Obdachlosigkeit im „Land Of Plenty“ angeprangert wird. Allein auch schon der nächste Song-Titel, „Land Of The So-Called Free“, dürfte nicht unbedingt Trump-Wähler anziehen.
Mellencamp hält auf „Orpheus Descending“ nicht nur sein Niveau als einer der besten und relevantesten Singer/Songwriter der USA, sondern verfestigt durch die konstant aussergewöhnlich hohe Qualität seinen Status. Musikalisch bewegt er sich mit seinen kongenialen und langjährigen Musikerkolleg:innen (inklusive Lisa Germano’s traumhaftem Violinen-Signature-Sound!) auf den kontemporären Spuren Woody Guthries („One More Trick“), klingt zuweilen wie ein bedächtiger Tom Waits („Amen“) und kann immer noch groovige Rocker („Orpheus Descending“) abliefern.
Bei aller (berechtigten) Wut bleiben Mellencamp jedoch immer noch der zuversichtliche und versöhnliche Blick auf eine „Perfect World“ und die Hoffnung, diesen nicht zu verlieren. Ausserdem möchte der Mit-Initiator von „Farm-Aid“ trotz aller Widrigkeiten eine weitere Sache nie verlieren: sein bereits oben angesprochenes Rückgrat. Dies macht er in „Backbone“, dem letzten Track des Albums, so eindrücklich wie wunderschön deutlich: „Let me leave on my backbone – so I still have my pride – when they lay me down to die.“
Bleibt zu hoffen, dass bis dahin noch einige Zeit vergehen wird.