La Suisse Primitive / VÖ: 8. Mai 2020 / Electronica
bittermoon.ch
Text: Sebastian Leiggener
Zurück bleibt ein stetes Flirren. Ungreifbar und dennoch spürbar. Wie ein Sonnenbad auf einer Wiese an einem zu heissen Tag. Du liegst im Gras um dich herum Blumen. Insekten schwirren hie und da um deine Ohren, lassen dich horchen – ziehen davon. In der Luft schwebt die Schwere der Hitze, trifft dich wellenhaft und drückt unerbittlich auf deinen Körper nieder. Die Sonne brennt, jede Bewegung vollführt sich Jahrtausende langsam. Du schleichst dich zwischen blitzartigen Gedankenexperimenten und Dämmerzuständen körperlos umher und immer wieder erinnert dieses Flirren dein Selbst, stört dein Driften und fordert die notwendige Aufmerksamkeit. Zustandsumschreibung für den Genuss des ersten Longplayers der Schweizer Band Bitter Moon.
Das Werk welches den wunderbaren offenen Titel „The World Above“ trägt, schwingt uns in sphärische Welten aus elektronischen Beats und unglaublich viel Synthesizer. Mechanische Finesse ohne Kompromisse, da schleicht sich nichts ein was nicht reingehört. Hin und wieder etwas Gesang, der in den Klängen konturlos treibt. Ansonsten vollkommener Rhythmus. Mit dem Opener „Zenos Paradox“ beginnt dieser Sonnentanz und stellt gleich die Frage ob sich der Sound auf Zenons Paradoxien der Vielheit beziehen – unteilbar, ewig, unveränderlich – Sein. Schon mitten drin und weggespült. Anfang verschwimmt im Ende. „Images“ lockert mit feinen Beats auf und fliesst ohne Unterbruch zu „Spurlos“ weiter, welchem wiederum eine entschleunigende Wirkung inne hält. Es stellt sich vage Kontinuität ein. Ein Wechselspiel zwischen aufhorchenden, getriebenen, die Sinne fordernden Stücken, gefolgt von elegischeren, verzeihenden Parts, die sacken lassen wie das folgende „Eva“. Erst wie Honig schleimend und langsam formend, bevor es gegen Ende in zuckenden Ringen anzieht. Der Köper gerät in sanfte Schwingungen. Zum Ende der A- Seite stellst du fest – eigentlich war alles ein Einziges.
Die B- Seite beginnt mit einem Reload zum erneuten Driften. Schleichender Gesang lässt kathedralische Stimmung gebären. Kalte Hallen durchzogen von Schimmern und Glanz. Los zurück in die Gedankenwelt. Auch das zweite Set zerfliesst ohne genau definierte Anfänge und Enden, geht hinüber in das aufwühlende „The World Above“. Weiter zu „Gloria“ in welchem… Plötzlich sind die Gedanken bei einem gefühlten Theremin hängen geblieben. Der ganze Rest des Gedankens – verschwunden. Magnetisch binden sich die Klänge an die Synapsen. „Still Stiller“ lässt uns noch einmal intergalaktische Mystik erfahren und endet mit spannenden Worten. Dann ein Bruch. „Kontaktseinheit“ beginnt und jetzt dämmert mir, dass alles davor nur Vorbereitung war. Sprechgesang lässt aufhorchen. Der Geist wird klar, im Hintergrund schleichende Elektronik. Alle Sinne sind bereit für Interaktion und Mitdenken. Die Band hat den Kontakt zum Hörer hergestellt. Sind das Fragen? Sind es Feststellungen? Das analoge ich in einer analogen Stadt, alle Sinne werden durcheinander gewirbelt. Wir sind drüben auf der anderen Seite. Das andere Selbst. Alles verblasst im endlosen Licht – im endlosen Nichts – zum Ende Nichts. Das Flirren bleibt.
Staunen stellt sich erst eine ganze Weile später ein. Ist es wirklich das was ich vermute? Ich lege mich erneut auf die imaginäre Wiese in den prallen Sonnenschein. Höre erneut, dann stelle ich meine Hypothese auf: Diese ganze Platte, sie ist geschaffen allein für die letzten knapp acht Minuten.
Na das ist doch mal ne Erfahrung.