Datum: 29. – 31. August 2014
Ort: Rümlang, Zürich
Webseite: ZÜRICH OPENAIR
Die Editors mit „Papillon“. Manic Street Preachers mit „If You Tolerate This Your Children Will Be Next“. White Lies und „E.S.T.“. Songs, die die Essenz einer Band herauskristallisieren und die innerhalb des Sturm und Drangs eines Festivals die wirklich grossen Momente verkörpern. Denn an einem Musikfestival innezuhalten und Ablenkungen auszublenden, das ist die Kunst. Und die gelingt nur in diesen ausgesuchten Augenblicken, in der Band und Musik zu einer perfekten Einheit verschmelzen. Am ZÜRICH OPENAIR passiert dies an wenigen, dafür umso wertvolleren Momenten.
Das ZÜRICH OPENAIR ist ein merkwürdiges Wesen: ein Nachzügler in der Schweizer Festivallandschaft, der zwar mit grossen Namen aufwarten kann, sich aber noch nicht wirklich eine eigene Identität geschaffen hat. Dass Electro als gemeinsamer Nenner fungiert, ist schon mal erfreulich. Wenn dann aber die wenig elektronisch angehauchten Manic Street Preachers auftauchen, kann man der Band nicht verübeln, dass sie etwas verloren wirkt.
Verloren stehen auch die wenigen Musikfans herum, die am Nachmittag schon nach Rümlang pilgern. Am Gurtenfestival im Monat zuvor, hatten sich gefühlte 5‘000 Personen zu viel auf dem Gelände durch die Menge gedrängt. Hier sind es 5‘000 zu wenig.
Die vierte Ausgabe des ZÜRICH OPENAIR ist denn auch nicht ausverkauft: rund 45’000 Leute besuchen das Festival; letztes Jahr waren es noch 69’000. So wirkt vor allem der regnerische Freitagnachmittag leer und stimmungslos, bevor sich abends die Reihen füllen.
Doch da gibt es ja noch die Musik. Die Palette reicht von der Schweiz über England nach Kanada, von Indierock über Synthiepop bis Electro House.
Zum Start des Freitags erklingt der herrlich elektronische Sound von Plasma. Die Bündner Band hat sich Muse als Vorbild genommen, inklusive Falsetto-Gesang und überdrehten Ausflügen in sphärische Synthie-Welten.
The Bianca Story aus Basel spielen danach gewohnt souverän und differenziert, ebenso Dry The River, die trotz Regen eine ansehnliche Menge vor die Hauptbühne locken.
Kadebostany, die verrückte Truppe um „Präsident“ Kadebostan und Sängerin Amina, ist die erste Band des Tages, die das Publikum mit beiden Händen packt und nicht mehr loslässt. Ungewöhnliche Melodien treffen auf Electrobeats und Sprechgesang, Posaune und Saxophon schmettern Marschmusik, und mit „Walking With A Ghost“ haben Kadebostany ein aussergewöhnliches Stück geschaffen.
Die Manic Street Preachers ziehen viele englischsprachige Zuschauer ans Festival – eine vierköpfige Familie aus England ist nur wegen der Manics gekommen. Die zwei kleinen Buben sitzen auf den Schultern der Eltern, sind mit grellgelben Kopfhörern ausgestattet und singen ganze Textpassagen mit. Das nenne ich mal gute Erziehung.
Die walisischen Manics sind in Grossbritannien legendär; hierzulande gelten sie eher als Geheimtipp. Genau 20 Jahre ist es her, als die Band ihr furioses Album „The Holy Bible“ veröffentlichte; im Song „P.C.P.“ spürt man heute noch ihre jugendliche Aggressivität. Das spätere „You Stole The Sun From My Heart“ ist milder und melodiöser, und aus ihrem neusten Werk „Futurology“ brilliert „Europa Geht Durch Mich“. Mit ihren Studioaufnahmen konnten mich die Manic Street Preachers nie wirklich fesseln, live überzeugen sie jedoch vollends – unterhaltsam ist vor allem Bassist Nicky Wire, der wie der Jungspund von damals auf der Bühne herumspringt.
Woodkid ist für mich die grösste Überraschung des Abends: ein viel ruhigeres Konzert als erwartet, bei dem sich seine grossartige Stimme über einem bombastisch-cineastischen Klangteppich entfaltet. Pompös sind auch Beleuchtung und Visuals – kein Wunder, denn Woodkids Musikvideos zu „Iron“ und „Run Boy Run“ sind atmosphärische Meisterwerke. Seine Songs kippen aber teilweise ins Sentimentale und Eindimensionale – nach mehreren Stücken hintereinander ist das eintönig. Auch werden die langen ruhigen Passagen vom Geschwätz des Publikums übertönt, was den Spass an der Musik verdirbt. Lieber mal ein Woodkid-Konzertbesuch in kleinerem Rahmen.
In der Zeltbühne dann als persönliches Highlight des Tages die Editors. Sänger Tom Smith ist stimmlich jedes Mal überzeugend und hat mit seinen spastischen Bewegungen eine ganz eigene Bühnenpräsenz entwickelt. Mal klettert er auf sein Klavier, mal springt er von Lautsprecherboxe zu Lautsprecherboxe, immer aber spielen er und seine vier Kumpanen ihr Repertoire mit voller Inbrunst. Das reicht vom hämmernden „Munich“ aus ihrem Erstling „The Back Room“ über das mächtige „Smokers Outside The Hospital Doors“ aus dem zweiten Album bis „Formaldehyde“ aus dem neusten Werk.
Grandios wie immer ist das ausgesprochen merkwürdige „Eat Raw Meat = Blood Drool“ mit seinem elektronischen „trö-trö-trö“ Klang und einer Melodie, die eigentlich gar nicht funktionieren dürfte. Ich empfehle jedem, sich mal das bizarre Musikvideo zum Song anzuschauen. Zum Abschluss des Konzerts bringt eine lange Version des Electro-Knallers „Papillon“ das Zelt zum Beben. Episch.
Den Ausklang liefert dann der Kanadier Deadmau5 mit knatterndem House. Manchmal gibt es nichts Schöneres, als um 1 Uhr morgens auf einer Wiese zu guten Beats zu tanzen.
Im Gegensatz zum Freitag wartet der Samstag mit Sonne und warmen Temperaturen auf. Die Gummistiefel können verstaut werden – jetzt gilt es, den perfekten letzten Sommerfestivaltag zu geniessen. Mit Anna Aaron beginnt der Tag schon mal qualitativ hochstehend. Zu meinem Bericht über ihr Konzert im März Anna Aaron gibt es hier nicht viel anzufügen, ausser dass Anna am ZÜRICH OPENAIR wiederum beweist, dass sie Meisterin der differenzierten Klänge ist.
Vancouver Sleep Clinic aus Australien verbreiten unterdessen auf der Hauptbühne sanft-atmosphärischen Sound, der die Weiten ihres Landes heraufbeschwört. Ähnlich expressionistisch-psychedelisch verhält es sich bei Junip, der Band um den schwedischen Indie-Folk-Sänger und Songwriter José González.
Die Entdeckung des Tages – nein, des Festivals – sind BRNS (ausgesprochen Brains) aus Belgien. Die vier Musiker stehen im Halbkreis auf der Bühne und der Schlagzeuger ist gleichzeitig der Sänger. Ihrem Namen entsprechend machen sie intelligente, komplexe Musik, die aber immer zugänglich bleibt. Der Sänger klingt wie das männliche Pendant zu Björk; der Sound erinnert an Bands wie Alt-J oder Outfit, die sich ebenfalls im sperrigen Bereich des Melodiespektrums aufhalten. Dass solch experimentelle Musik dennoch tanzbar ist, beweisen BRNS ohne Zweifel. Unbedingt reinhören.
Ein weiterer Höhepunkt des Samstags sind die White Lies, die schon 2012 am ZÜRICH OPENAIR auftraten. Sänger Harry McVeigh erinnert sich an den Abend, da es damals in Strömen geregnet hatte und die Fans trotzdem geblieben waren. Dieses Jahr, in der warmen Abendsonne, verharren die Zuschauer erst recht. Als ich die White Lies vor vier Jahren das erste Mal sah, waren sie schüchterne Jungs mit zurückhaltendem Auftreten. Aus den Grünschnäbeln sind inzwischen überzeugende Headliner geworden. Die sonore Stimme von McVeigh hat an Kraft, die dunklen Klänge der Band an Spannung gewonnen. Von „To Lose My Life“ über „E.S.T.“ zu „Big TV“ und „Bigger Than Us“ liefern die White Lies dichte und mächtige Lieder. Ein starkes Konzert.
Röyksopp & Robyn sorgen danach mit Electropop für ausgelassene Partylaune. Die Norweger Svein Berge und Torbjørn Brundtland haben sich mit der schwedischen Sängerin zusammengetan und im Frühjahr dieses Jahres ihre EP „Do It Again“ veröffentlicht. Das Konzert ist dreigeteilt in ein Set für Röyksopp, eines für Robyn und eines für beide zusammen. Röyksopp versetzen sofort in Tanzstimmung – das Publikum wippt und springt. Doch die Rhythmen werden zunehmend abwechslungslos und die Energie flaut ab. Gut, dass Robyn einspringt und den Synthie-Faden mit Elan weiterspinnt. In silbernen Masken und Roboteranzügen treten schliesslich Röyksopp & Robyn zusammen auf, ein Smorgasbord an Kostümen und Electro.
Den übergeschnappten Abschluss des Samstags bilden die Italo-Elektronik-Kracher Bloody Beetroots, die sich mit einer solch geballten Ladung Dynamik in ihre Songs stürzen, dass die Menge vollkommen ausrastet: es wird gesprungen, geschriien und fröhlich mit Bier geworfen.
Ein herrlich durchgeknalltes Ende eines durchmischten Festivals, das insgesamt zu brav daherkam, auch wenn es wunderschöne Momente bot. Es bleibt zu hoffen, dass sich das ZÜRICH OPENAIR im Festival-Überangebot in Zukunft eine klare Identität schaffen kann und eine Prise mehr Kantigkeit zulässt.
Text + Bilder: Anna Wirz