Datum: 20. September 2015
Ort: Komplex 457 – Zürich
Band: Steven Wilson
Interessanter Zufall: Auf dem Fussweg vom Bahnhof Zürich Altstetten zum Komplex 457 fiel mir ein Plakat für eine Weihnachtsshow auf, viel zu früh für meinen Geschmack. Doch wer konnte schon ahnen, dass Steven Wilson mit seinem Auftritt einen Abend abliefert, der wie Weihnachten und Geburtstag zusammen war? Da war ich im Nachhinein doppelt so glücklich, die Tour zum neusten Album „Hand. Cannot. Erase“ ein zweites Mal besucht zu haben. Anfängliche Bedenken, die gleiche Show noch ein zweites Mal zu sehen, wurden gleich mit dem Konzerteinstieg weggeblasen.
Steven Wilson und seine hypertalentierten Musiker starteten den Abend mit einem kräftig gespielten „No Twilight In The Court Of The Sun“. Somit war es klar, die konzeptuelle Inszenierung der neusten Platte wird heute nicht befolgt, alles ist möglich. Wilson selber zeigte sich sehr gesprächig und offen. Es wurde gewitzelt, erklärt und erzählt – vom scheuen und zurückhaltenden Tüftler, der sich hinter seinen langen Haaren versteckt, ist praktisch nichts mehr übrig. Wie ein Zeremonienmeister führt er Musiker und Publikum durch die Lieder, unterstreicht seinen Gesang mit exzentrischen Gesten und harten Gitarrenriffs.
Die Solokarriere hat den Mann ganz klar beflügelt und nicht nur seine Musik auf ein neues Niveau gehoben. Ton, Licht und Bild waren wie immer in perfekter Harmonie, die künstlerisch anspruchsvollen Videos untermalten die Lieder perfekt. Songs wie „Hand. Cannot. Erase.“, „Routine“ oder „Index“ erhielten somit mehr Kraft und die Texte waren verständlicher. Gerade „Index“ in seiner neuen, noch beklommeneren Version ist immer wieder ein Erlebnis und die gruseligen Bilder von Lasse Hoile faszinieren mit ihrem unheimlichen Grundton.
Dass Zürich ein spezielles Vergnügen bevorstehe, erklärte Wilson gleich mit der Ankündigung, den Auftritt als inoffizielle Probe für die angekündigten Konzerte in der Royal Albert Hall zu missbrauchen. Da in London karriereübergreifend Lieder gespielt werden, nutzte die Band den Sonntag, um alte Klassiker und unveröffentlichtes Material vorzustellen. Wer hätte es in seinenkühnsten Träumen für möglich gehalten, an diesem Abend „Don’t Hate Me“ und „Shesmovedon“ von Porcupine Tree zu vernehmen? Lieder, die seit Ewigkeiten nicht mehr live gespielt wurden und viele Besucher wohl noch nie an einem Konzert geniessen konnten. Ein magischer Moment, Gänsehaut und Freudetränen inklusive.
Um die Überraschung perfekt zu machen, stimmte der Prog-Gott danach „My Book Of Regrets“ an, ein Lied, das bisher auf keinem Album zu finden ist. Ein langer und komplexer Song, voller Breaks und krummer Rhythmen, New-Prog vom Feinsten. Das Stück wird wohl im Januar auf einer neuen EP zu erwerben sein, genaueres wurde aber nicht verraten.
Natürlich gab es auch viele Lieder, die auf der Tour dazugehören – „Ancestral“, „Home Invasion“ und „Regret 9“. Die neuste Platte, welche Art-Rock, Prog und elektronische Spielereien vorzüglich kombiniert, muss schliesslich gehuldigt werden. Aber wirklich gross wurde es dann mit den Zugaben. Auf „Secretarian“ folgte mit „Sleep Together“ ein weiterer Kracher von Procupine Tree.
Und was Wilson zuvor schon kurz angesprochen hatte, wurde Realität: Ein Lied vom Klassiker „In Absentia“ schallte durch das Komplex. „Sound Of Muzak“ verzückte alle und liess den Applaus noch einmal lauter werden. Um die Leute wieder auf den Boden zu holen, wurde der Auftritt mit „The Raven That Refused To Sing“ beendet, ein melancholisches und mitreissendes Lied mit vielen Streichern und wildem Mittelteil.
Danach hiess es für die Band: den verdienten Jubel einsammeln und sich endgültig verabschieden. Wer dachte, Steven Wilson sei mit seinen Konzerten an der Spitze angekommen, der wurde hier eines Besseren belehrt. Es geht immer noch mehr!
Setlist:
1. No Twilight Within The Courts Of The Sun
2. Drive Home
3. Hand Cannot Erase
4. Routine
5. Index
6. Home Invasion
7. Regret #9
8. Don’t Hate Me
9. Shesmovedon
10. My Book Of Regrets
11. Ancestral
12. Happy Returns / Ascendant Here On…
13. Sectarian
14. Sleep Together
15. The Sound Of Muzak
16. The Raven That Refused To Sing
[Quelle: setlist.fm]
Text: Michael Bohli
Bilder: Kathrin Hirzel