30. Juni 2017
Auditorium Stravinski – Montreux Jazz Festival
Bands: Max Richter / Nicolas Jaar
Das war in dieser Form noch nie zu erleben: Dass das Montreux Jazz Festival mit einem klassischen Konzert beginnt. Doch auch in seiner 51. Ausgabe weiss das zwei Wochen andauernde Fest für Musik in jeglichen Formen immer noch zu überraschen – und ein Künstler wie Max Richter gehört einfach hierhin. Der in Westdeutschland geborene englische Komponist ist seit 1994 aktiv und verzaubert die Welt immer wieder mit seinen neuen Ideen in gesetzten Genres. Bei ihm werden klassische Musik und Kammerorchester zu Spielsteinen in innovativen Umgebungen.
Für seinen ersten Auftritt in Montreux wählte Max Richter zwei Alben zur kompletten Darbietung aus und betrat mit dem 12 Ensemble die ehrwürdige Bühne des Auditorium Stravinski, um sogleich in „Recomposed by Max Richter: Vivaldi – The Four Seasons“ einzutauchen. Das Werk ist eine Neukonstruktion der bekannten Jahreszeiten und führte das Material in die Nähe der minimalistischen Klassik. In sanftem Verbund mit Keyboard und dank der fantastischen Solistin Mari Samuelsen aus Norwegen wurden Melodien, welche man schon fast zu oft vernommen hat, zu neuen Entdeckungsmöglichkeiten und rührenden Momenten.
Richter fungierte hier vor allem als Leiter der Musiker, der tosende Applaus galt aber zu Recht auch ihm. Denn diese Neubearbeitung ist nicht nur packend und frisch, sondern emotional und überraschend. Dies galt auch für das komplette Spiel von „The Blue Notebooks“, ein Album aus dem Jahr 2004. Auf dieser Platte verarbeitete Max Richter seine Empfindungen zum damaligen Irak-Krieg und vermischte Elektronik mit Ambient und moderner Klassik. Endlich langte nun auch der Meister in die Tasten und bewies sein Genie am Klavier und dem Keyboard, The 12 Ensemble hielt in reduzierter Anzahl mit Streichern dagegen.
Ätherisch wurde dieses Konzert dank den gelesenen Textausschnitten von Franz Kafka, welche die Musik begleiteten. Kein Wunder, erreichte man als Zuschauer nach diesen zwei Stunden schon fast eine andere Sphäre und war verwundert, dass der Abend noch kein Ende fand. Nun hiess es: Mit hohem Tempo in die Gegenwart, oder besser gesagt in die abstrakte Zukunft. Das Auditorium gehörte nun dem chilenischen Produzenten Nicolas Jaar, der mit seinen Gerätschaften und Synthies den Schönklang von Streichern und Arrangements schnell vergessen liess. Viel mehr wähnte man sich in ausserirdischen Welten und neben merkwürdigen Kreaturen.
Mit langem Aufbau, experimentellen Klangkonstruktionen und einem glasklaren Sound baute Nicolas Jaar sein Set von kratzenden Einzeltönen zu dröhnenden Beats mit Gesang auf. Was zuerst an Amon Tobin erinnerte, war am Ende eine Feier der IDM und des Techno mit Sexappeal und verzerrtem Saxophon. Da passte es, dass sein Konzert bis tief in die Nacht dauerte und dank grossartiger Lichtuntermalung die Sinne langsam im Nebel versinken liess.
Und was sich auf Papier zuerst wie eine zu gewagte und etwas unschlüssige Kombination liest, war in Wirklichkeit ein bewegendes und immerzu grossartiges Erlebnis. Max Richter und Nicolas Jaar arbeiten nicht nur beide mit neuen Herangehensweisen an bekannte Genres, sondern haben zu zweit innerhalb weniger Stunden den grossen Kreis des Programms des Montreux Jazz Festival geschlossen. Tief in das musikalische Erbe zurückgreifend und gleichzeitig weit in die Zukunft schauend – so wird Geschichte untermalt.
Text: Michael Bohli