Ein Wohnzimmer in Zofingen
Samstag, 14. Mai 2022
Text: Michael Bohli
ESC – die drei Buchstaben sind ein wichtiger Teil meines Alltags. Oben links lauern sie, werden behämmert und retten manchmal aus brenzligen Situationen. Dass einmal im Jahr der Abbruch zu einer Nacht voller Glitzer und Lichter mutiert, wissen wir alle. Doch wer gibt sich dem kitschigen Fest des Eurovision Song Contest tatsächlich hin?
Hingabe. Abbruch. Es ist Samstag, der 14. Mai 2022, in sieben Stunden treffen wir uns im Wohnzimmer einer Freundin, um die Show in gesamter Länge zu erleben. Meine Zusage erfolgte unter zuvorkommendem Druck, ein lieb gemeinter Zwang. Die Vorbereitungen stehen: Alle 25 Songs des Finals habe ich mir angehört, meine fünf Favoriten* herausgepickt und zu allen Liedern ein paar Gedanken aufgeschrieben. Snacks und Getränke werden herangeschleppt, das Make-Up liegt auf dem Tisch. Europa friedlich vereint, unter dem Banner der Musik. Schön wäre es, allerdings ist bereits jetzt klar, wer gewinnen wird.
Schnitt und viele Stunden, Getränke und fragwürdige Lieder später.
Oder doch nicht? Scheinbar wollten die Länder nicht alle nur aus Sympathie ihre Punkte vergeben. Politisch ist es, was beim ESC abgeht, Skandale bahnen sich jährlich an. 2022 jedoch war zahm, Deutschland wurde ignoriert, die meisten Länder reisten mit Sam Ryder und den UK ins All. Wahrscheinlich keine schlechte Wahl, denn wer will schon mit Wölfen aus Norwegen Bananen essen? Oder eine Zugfahrt in Richtung Après-Ski mit der Republik Moldau unternehmen?
Wir haben dies zu fünft alles getan. Bubble Tea als Droge (ja, das gibt es jetzt sogar in Zofingen), überall im Wohnzimmer Ballone und auf den Beinen das ESC-Bingo, welches die musikalische Grenzerfahrung noch stressiger gestaltete. Mit jedem schlechten Spruch ein Schluck Bier, dazwischen Knabbereien und gegenseitige Sticheleien. Doch, ein Eurovision Song Contest kann zu einem unterhaltsamen Nachtprogramm werden (blutende Ohren lassen sich trotzdem nicht vermeiden).
Unterhaltung zumindest wenn die Moderation nicht in Grabschen und schlechten Witzen untergeht, oder die Punktevergabe mehr als die Hälfte der Sendungsdauer frisst. Dann der Sieg der Ukraine, die Welt wurde geradegerückt. Schade nur, gab es keine Konfettikanonen, kein Fake-Regen, keine Kostüme, die in Flammen aufgingen und eine Halbzeitshow mit Mika. Zu Hülf! Dafür eine Schweizer Darbietung, die alle einschlafen liess. Oder wie sonst erklären sich die null Punkte (hust)?
Montagabend: Zwei Tage nach dem ESC 2022 sind mir keine Melodien geblieben, ich habe keine neuen Künstler:innen entdeckt, die ich weiterverfolgen werde. Aber hey, Freundschaften gingen ebenfalls keine zu Bruch und ich weiss nun, dass die Kombination aus roter und grüner Schminke um meine Augen irgendwie nicht so fetzig ist, wie ich mir das vorgestellt habe. Das nächste Jahr wird dann… nein!
Wer es verpasst hat, kann unter diesem Link die gesamte Show nachholen. Läppische 251 Minuten.
*Meine Favoriten 2022:
Armenien – Rosa Linn „Snap“
Griechenland – Amanda Tenfjord „Die Together“
Niederlande – S10 „De Diepte“
Schweden – Cornelia Jakobs „Hold Me Closer“
Spanien – Chanel „SloMo“