16. Mai 2019
La Seine Musicale – Boulogne-Billancourt
Band: Archive
Das Kollektiv Archive feierte sein 25-jähriges Bestehen mit einem ausgiebigen Konzertabend in Paris. Zwei ARTNOIR-Schreiberlinge durften sich das nicht entgehen lassen: Zwei Eindrücke von zwei Paar Ohren.
Conny: Es ist schon etwas Feines, wenn die Lieblingsband ein Spezialkonzert zum 25-jährigen Jubiläum ankündigt. Wenn man am Tag davor dann noch erfährt, dass das Konzert gute dreienhalb Stunden dauern wird, ist die Vorfreude mindestens so gross wie der Eiffelturm.
Ganz in dessen Nähe wurde nämlich der Geburtstag gefeiert: Archive gaben sich die Ehre nicht etwa in ihrer Heimat England, sondern in der Hauptstadt Frankreichs, wo ihre Fangemeinde am grössten ist. Schon eine Stunde vor dem Konzert war die erwartungsvolle Stimmung in und um die La Seine Musicale deutlich zu spüren; künstlicher Nebel drang bereits aus dem Saal in das übrige Gebäude und stimmte auf die kommenden Stunden ein.
Paris liess es dann auch nicht an Applaus mangeln, als Archive endlich die Bühne betraten und mit „You Make Me Feel“, gesungen von Maria Q, gleich einen ersten, in jüngster Vergangenheit nicht mehr oft gehörten Kracher ablieferten. Mit „Fuck You“, „Pills“ und „Bullets“ ging es Schlag auf Schlag weiter. Die Band gönnte sich allgemein kaum einen Moment der Ruhe, ihre Energie übertrug sich ohne Umwege auf das Publikum und es wurde ausgelassen getanzt, gesungen und gejubelt. Auch Sängerin Holly Martin kam für einige Songs auf die Bühne und hat mit ihrer grossartigen, unter die Haut gehenden Performance von „Nothing Else“ (vom Debütalbum „Londinium“) wohl auch den letzten Kritiker überzeugt.
Für eine (insgeheim ein bisschen erhoffte) Überraschung sorgten Gäste von ausserhalb des Kollektivs. Für den neuen Song „Remains Of Nothing“, der auf der kürzlich erschienenen Best-Of „25“ enthalten ist, stiess tatsächlich die Band Of Skulls dazu – und was auf Platte ganz nett und trip-hoppig klingt, erwies sich live als ein regelrechtes Feuerwerk an Heftigkeit und Emotion. Grossartig!
Nach gut zwei Stunden gönnten sich die Musiker eine kurze Atempause, um schliesslich noch einmal über eine Stunde nachzulegen. Wir hatten vor dem Konzert noch Witze darüber gemacht, dass hier eigentlich Platz wäre für ein paar „kurze“ Zugaben wie „Lights“, „Finding It So Hard“ oder „Again“. Nun, kein Witz: Wir bekamen sie alle!
Ich habe Archive schon viele Male live gesehen. Sie haben mich fast nie enttäuscht. Aber immer ging ich aus den Konzerten mit dem Gedanken, dass ich diesen oder jenen Song auch gerne wieder einmal live gehört hätte. An diesem Abend in Paris war es zum ersten Mal nicht so: Es hat einfach alles gepasst, nichts fehlte und die Leistung der Musiker war so gut wie nie; besser hätten sie es nicht treffen können. Mit schmerzenden Füssen und voller Zufriedenheit wurden wir in die Nacht entlassen – und begegneten am nächsten Tag noch dem ein oder anderen Archive-T-Shirt, das wohl ebenfalls für dieses Erlebnis angereist war und sich noch ein paar weitere Stunden in Paris herumtrieb. Unvergesslich.
Michael: Bei der Anreise war bereits klar, dieser Abend würde unvergesslich werden. Das Konzert zum 25. Geburtstag der Londoner Band Archive, welches in La Seine Musicale stattfand, leicht ausserhalb von Paris und in dem beeindruckenden Gebäude von Shigeru Ban, wurde mit einer Länge von dreieinhalb Stunden angesetzt und die Band erfüllte diese Vorgabe ohne Probleme. Der grosse Konzertsaal war von Beginn an in stimmungsvollen Nebel getaucht, die Leute fieberten dem Auftritt spürbar entgegen. Und dann dieser Beginn, „You Make Me Feel“, „Fuck You“ und „Pills“ – ein Hattrick, der an seiner Wucht und Intensität nicht nur unübertrefflich war, sondern die Grundsteine für den Abend legte.
Archive kehrten nach Paris zurück, in ihre heimliche Heimat und wurden von den Fans frenetisch gefeiert. Lautes Jubeln und Klatschen, leidenschaftliches Mitsingen, Springen und Tanzen – wer hier nicht von der guten Laune erfasst wurde, dem war nicht zu helfen. Auch die Band gab alles und zeigte sich bei den wenigen und kurzen Ansprachen sehr gerührt. Kein Wunder, denn diese Geburtstagsfeier wurde mit 25 gespielten Songs zu einem ausgedehnten Fest, jedes Album (ausgenommen der Soundtrack zu „Michel Vaillant“) fand Einzug in die Setliste, inklusive drei brandneuer Tracks von der Compilation „25„. Ein Feuerwerk an Musik, Gesang und Emotion.
Holly Martin zeigte sich am Mikrofon gefestigt und stimmgewaltig, übernahm den Urknall bei „Nothing Else“ und tanzte sich lasziv durch „Kid Corner“. Maria Q bewies erneut, dass dank ihrem Gesang der Trip-Hop auch heute noch schimmern kann, ergänzt um pulsierende Bässe und epochalen Synthesizerwänden. Die Band um Darius Keeler und Danny Griffiths führte jeden Song mit eindrücklicher Dynamik und mit sattem Klangkörper ins Feld, Dave Pen und Pollard Berrier brachten mit Gesang und Gitarren die Menschlichkeit in das Konzert. Und dann noch diese Gäste: Russell Marsden und Emma Richardson von Band of Skulls („Remains Of Nothing“), Mike Peters mit der Mundharmonika beim aufwühlenden Ende mit „Again“.
Nach diesen zwei Sets war man verzaubert, erschöpft, zu Tränen gerührt und mehr als nur erfüllt. Archive lieferten in Paris kein Konzert, sondern eine Offenbarung. Mit fantastischen Darbietungen von „Finding It So Hard“, „Lights“ oder „Shiver“, mit Zerbrechlichkeit („The Empty Bottle“) und Härte („Dangervisit“). Bereits oft durfte ich dieses Kollektiv auf den Bühnen erleben, noch nie hat mich ein Auftritt der Londoner so zufrieden und glücklich gemacht. Besser kann man ein Vierteljahrhundert an Eigenständigkeit und Innovationsgeist nicht feiern, unvergesslich und mitreissend.
Setlist [Quelle: Setlist.fm]
Set 1
1. You Make Me Feel
2. Fuck U
3. Pills
4. Bullets
5. Kings of Speed
6. Noise
7. Kid Corner
8. Violently
9. System
10. Wiped Out
11. Shiver
12. Collapse/Collide
13. Splinters
14. Remains of Nothing
15. End of Our Days
16. The Empty Bottle
17. Dangervisit
Set 2
18. Lights
19. Nothing Else
20. Erase
21. Finding It So Hard
22. The Hell Scared Out of Me
23. Controlling Crowds
24. Numb
Zugabe
25. Again
Text: Michael Bohli und Cornelia Hüsser