Name: Michael Bohli
Tätigkeit bei ARTNOIR: Redakteur
Dabei seit: August 2015
Wie kann man die letzten zwölf Monate bloss in Worte fassen? Wie soll man eine globale Veränderung mit so wenig Distanz beurteilen und analysieren können? Eigentlich gar nicht, doch zumindest will das Herz etwas mehr Raum, ein paar Aussagen.
Globale Pandemie, Einschränkungen, Zusammenbruch des Alltags, Bangen und Hoffen für Menschen, Freunde, Familie – trotz der Entschleunigung aller Aspekte wollte sich 2020 selten eine Beruhigung einstellen. Ja, ich muss dieser Notbremse persönlich dankbar sein, denn ohne die äusseren Zwänge hätte ich es wohl nicht geschafft, mein Konsum an Veranstaltungen und Konzerte wieder auf ein erträgliches Niveau herunterzuschrauben. Die Überforderung war da, der Abgrund nahe.
Dann der Stopp, die Leere und die Erkenntnis, dass ein ruhiger Abend in der Wohnung oder ein kurzes Bierchen auf dem Balkon die Seele gleichermassen streichelt. Somit führte die Distanz an wenigen Stellen zu mehr Nähe, zu mehr Austausch. Wie etwa zwischen Fans und Bands, bei digitalen Auftritten und Online-Meetings. Technik, neue Weltsicht, Bits und Bites – und ein Umdenken?
Meine grösste Hoffnung lag 2020 nicht etwa darin, dass Künstler*innen trotz schwierigen Monaten zu Höhenflügen fanden, sondern, dass sich die gesamte Gesellschaft neu aufstellt. Hinfort mit dem destruktiven Neoliberalismus, in die Tonne mit der Konsumgesellschaft. Mehr Kultur, Musik, soziale Gedanken und Gerechtigkeit – eine neue Wertgewichtung. Doch es wollte noch nicht soweit kommen. Scheinbar war die Pandemie kein genügend triftiger Grund.
Gewisse Strömungen wurden doch verstärkt, so nahm ich auf meiner musikalischen Entdeckungsreise vermehrt wahr, dass sich Künstlerinnen gegen das System, Patriarchat und die herrschenden Traditionen auflehnen. Das geschah 2020 in brachialer Weise (wie dem lärmenden Aufschrei von Mrs. Piss), oder in länderübergreifender und unglaublich eingängiger Art. „Zan Bezan“ von Liraz sei hier als heller Stern genannt. Oder der lyrische Schlag, den Culk mit Liedern wie „Nacht“ oder „Dichterin“ boten – vielschichtig, intelligent, aufreibend. Das öffnet die Augen, das zeigt eine neue Welt. Und riss, wie bei Georgia, gleich ein komplettes Genre an sich.
Für 2021 wünsche mir darum nicht nur eine Beruhigung im Gesundheitswesen, im Alltag und in den Strassen, sondern in unseren Köpfen und unseren Gemütern. Dann muss Grimes nämlich nicht mehr das gesamte Universum in ihren Liedern zerstören (wie auf dem fulminanten Werk „Miss Anthropocene“ geschehen), dann sind Treffen und Konzerte im kleinen und lokalen Rahmen plötzlich attraktiver als eine Gigantomanie im Stadion.
Wie es 2020 das OOAM Festival in Baden bot, wie es die alternative Feier Heiter im Tal in Zofingen zelebrierte, wie der spontane Ersatzabend C-Sides in Luzern es vormachte. Die Kreativität lässt sich nicht unterkriegen und bleibt stark und unberechenbar. Stehen wir darum weiterhin und noch viel mehr an der Seite der Kulturschaffenden, der Musiker*innen und allen Beteiligten hinter den Kulissen.
Denn wie es Olifr M. Guz wusste, so gilt dies für uns: „Irgendwann wird alles gut“. Verantwortlich dafür sind wir alle, zu jeder Sekunde.
Ordnung muss sein, darum hier die Bestenliste der Alben 2020.
Alben National
1. Die Aeronatuen – Neun Extraleben
2. Dachs – Zu jeder Stund en Vogelgsang
3. Annie Taylor – Sweet Mortality
4. Casanora – Happiness Is Mostly Sold Out
5. The Night Is Still Young – She Wants Us To Leave
6. Egopusher – Beyond
7. The Company Of Men – Sounds Of The Century
8. Cold Reading – Zyt
9. Kety Fusco – Dazed
10. Schnellertollermeier – 5
Alben International
1. Grimes – Miss Anthropocene
2. Culk – Zerstreuen über euch
3. Sufjan Stevens – The Ascension
4. Ulver – Flowers Of Evil
5. Emma Ruth Rundle And Thou – May Our Chambers Be Full
6. Destroyer – Have We Met
7. My Morning Jacket – The Waterfall II
8. The Flaming Lips – American Head
9 Georgia – Seeking Thrills
10. Puscifer – Existential Reckoning