Name: Michael Bohli
Tätigkeit bei ARTNOIR: Redakteur
Dabei seit: August 2015
Einfach hier zu sein, das gibt es nicht mehr. Die Welt dreht sich immer stärker in einem Strudel aus Verzweiflung, Angst und Unwissenheit, was 2018 nicht nur auf der politischen Spielfläche für immer tiefer gehende Extreme gesorgt hat. Zwar wurde vom Stimmvolk in der Schweiz verhindert, dass unser ach so neutrales Land die Menschenrechte mit den Füssen tritt, und der unabhängigen Medienkunst der Geldhahn abgedreht wird – wer sich in seinem persönlichen Umfeld umhörte, der musste aber immer wieder leer schlucken. Jeder Moment ist somit ein aktives Einbringen.
Schön also, gab es auch 2018 in der Musikwelt Künstlerinnen und Künstler, die sich nicht zufrieden gaben mit schönen Melodien und tollen Liedchen, sondern versuchten, die Menschen wachzurütteln, anzuecken und Missstände aufzudecken. Wie etwa Farai mit ihrem kargen und schonungslosen Debüt „Rebirth“ oder Anna Calvi, die sich auf „Hunter“ in die Rolle eines Mannes versetzte und dem Patriarchat gehörig eins zwischen die Beine trat. Sowieso, die Frauen: Joan As Police Woman, Julia Holter, U.S. Girls oder Emma Ruth Rundle – mit viel Gitarre, Ausdruck und Stilsicherheit eroberten die Damen nicht nur bei mir das Herz.
Schön, dass sich auch die heimische Szene nicht lumpen liess und mit den Werken von Ikan Hyu, Emilie Zoé oder Evelinn Trouble neuen Wind in bekannte Stilrichtungen blies. Inspiration liess sich aber durchaus an Stellen finden, an denen ich mich bisher noch wenig umgeschaut hatte. So tauchte ich immer tiefer in die gestalterische Kunst ein und war vor allem von den Ausstellungen zu Bacon / Giacometti in der Fondation Beyeler oder Bruce Nauman im Schaulager berührt. Und ich hätte es vor wenigen Jahren wohl auch nicht für möglich gehalten, dass mich eine Installation, welche im eigentlichen Sinne nur aus einer farbig beleuchteten Fläche besteht, grundtief erschüttern und mitreissen könnte. Zum Glück besuchten wir Baden-Baden und die Werkschau von James Turrell.
Am anderen Ende des Spektrums wartete der Auftritt des Zürcher Künstlers Rio Wolta auf, der sein neustes Album „No More Intimate Music“ in (fast) kompletter Dunkelheit aufführte – und somit Projektionsfläche, Annäherung und Identifikation mit der Musik veränderte. Es blieb auch 2018 extrem wichtig, dass man sich mit sich selber beschäftigt und die eigene Position in der Welt, Gesellschaft und dem System überdenkt. Daran rüttelten auch die Auftritte von oben erwähnten Damen, welche vielfach die Konzerte zu einer Performance ausweiteten – oder Noga Erez, die am Theaterspektakel mit viel Aufmüpfigkeit und Beats alle rumgekriegt hat.
Viele Darbietungen waren für mich somit sehr berührend und persönlich, aber Musik funktioniert immer dann am besten, wenn sie den gesamten Körper für sich beansprucht. Wie etwa Low mit ihrem betörenden Konzert und noch besseren Album. Oder Anna Von Hausswolff, die in Montreux zuerst jede Faser meines Körpers elektrifizierte, um dann Nick Cave Platz zu machen. Das war schon fast unwirklich. Wie auch Gary Numan und Nine Inch Nails zusammen an einem Abend erleben zu dürfen.
Aber bevor ich mich ganz in der Vergangenheit verliere: 2019 wird einige Highlights bieten. So feiert ARTNOIR am 9. Februar 2019 sein 10-jähriges Jubiläum im KIFF in Aarau. Mit drei Bands, einem tollen DJ und hoffentlich euch allen als Gäste. Wir treffen uns dort, ja?
PS: Wunderbare Scheiben von tollen Frauen, da hätten wir 2018 auch Robyn mit ihrem neuen Popjuwel „Honey“, Snail Mail mit ihrer Indie-Saite „Lush„, Asbest mit ihrer Noise-Axt „Driven„, Laura Gibson mit ihrer Folk-Magie „Goners„, Natalie Prass mit ihrem Pop-Traum „The Future And The Past„, Dhanya mit ihrer Trip-Hop-Esoterik „Dhanya„, Fishbach mit ihrem Chanson-Festmahl „A Ta Merci„, Anna Burch mit der Dreampop-Schlagseite „Quit The Curse„, Hatchie mit ihrem Pop-Gewürz „Sugar & Spice„, Sophie Hunger mit ihrem Electro-Berlin „Molecules„, Burning Witches mit ihrer Metal-Beschwörung „Hexenhammer„, Colour Of Rice mit ihrer Singer-Songwriter-Brise „Oh Darling“ und viele mehr.
Wie immer noch die Listen, welche alles in eine Reihenfolge stellen, die bereits in wenigen Tagen überholt sein wird.
Top 5 – Alben International
1. Low – Double Negative
Das ewige Experiment Musik wird neu erfunden, in purer Schönheit.
2. Emma Ruth Rundle – On Dark Horses
Wucht, Intensität und weiblicher Ausdruck, diese Gitarren vergisst man nicht.
3. Anna Von Hausswolff – Dead Magic
Bedrohlicher und grösser werden Lieder selten, so klingt der Weltuntergang.
4. Underworld – Teatime Dub Encounters
Zusammen mit Iggy Pop wird Tanzmusik zur Welterfahrung.
5. U.S. Girls – In A Poem Unlimited
Das ist Kunst, das biegt die Gedanken um die Ecke, das ist Pop.
Top 5 – Alben National
1. H E X – H E X
Wenn sich Architektur aufmacht Klänge zu sein, dann landet man hier.
2. Evelinn Trouble – Hope Music
Was Lady Gaga in den USA macht, das kann diese Künstlerin schon lange.
3. Lord Kesseli And The Drums – Melodies Of Immortality
Ausserirdisch und organisch, fremdartig und fesselnd.
4. Zeal & Ardor – Stranger Fruit
In der Hölle klingt es wohl immer wieder mal wie auf dieser Scheibe – heiss.
5. Coilguns – Millennials
Nach dem Konsum dieses Albums landet man mit Sicherheit in der Klapse.
Top 5 – Konzerte
1. Low, Bogen F – Zürich, 06.10.2018
Monate danach spürte ich die Energie dieses Auftrittes noch, wunderschön.
2. Justin Sullivan, Oxil – Zofingen, 14.03.2018
Tieftraurig und tragisch war diese Begegnung, aber auch erlösend und erhebend.
3. U.S. Girls, Kaserne – Basel, 10.05.2018
Zwischen Theater und Konzert, immer genau in Mitte der Wahrheit.
4. H E X, Czar Fest – Kaserne Basel, 12.05.2018
Wenn man das Gebäude wie hypnotisiert verlässt, dann war alles richtig.
5. Emma Ruth Rundle, Rote Fabrik – Zürich, 17.10.2018
Wie auch das Album, löste der Auftritt bei mir alle möglichen Gefühle aus.