Band: Agnes Obel
Album: Myopia
Genre: Pop / Alternative / Singer-Songwriter
Label: Deutsche Grammophon
VÖ: 21. Februar 2020
Webseite: agnesobel.com
Es ist völlig unmöglich in voller Klarheit und Präsenz über das neue Album „Myopia“ von Agnes Obel zu schreiben. Zu leicht schweift man beim Hören davon und lässt sich in der instrumentalen Verzerrtheit treiben. Was bleibt sind jeweils nur einzelne Bilder und das Gefühl für Stunden verschwunden zu sein. Die Bilder die bleiben setzen sich aber fest. Sie sind meist schwer, dunkel, gar beklemmend und bisweilen driften sie ins Dystopische ab. Nur beim mehrmaligen Genuss lassen sich langsam weitende Risse von schimmernder Zuversicht erkennen. Dennoch ist „Myopia“ das bisher wohl schaurigste Werk der Dänin, entstanden in der Isolation zwischen schlaflosen Nächten und schweren Gedanken über Leben und Sterben. Ganz alleine hat sich Obel hindurch gearbeitet, wie bei jedem Ihrer Alben. Keine Äusseren Einflüsse während dem Schreiben, Aufnehmen und Abmischen.
In den 10 Songs experimentiert Obel, wie gewohnt, stark mit dem Bearbeiten und Verzerren der Streich- und Klavierklänge. Spielt mit den Tonhöhen von Gesang und lässt gar das Celesta erklingen was dem ganzen eine orchestrale Stimmung verleiht. Die Mystik die so entsteht lässt die Klänge im Kopf tatsächlich in Bilder verwandeln. Da wandert eine scheinende Lichtgestalt in „Broken Sleep“ durch dunkle nur angedeutete Gänge im Wissen vom Schatten beobachtet zu werden. Schweröl auf Leinwand. Schmal instrumentalisiert, lieblich gesungen und mühsam gehackt von einem dezenten höchst selten gehörtem Luthéal-Klavier als Störfaktor. „Roscian“ lebt allein von der Liebe zum Klavier und ist eine Versöhnung nach dem Unheimlichen „Island Of Doom“ sicher eines der zentralen Stücke auf der Platte. Kernelement ist das tiefer gestimmte Klavier sowie das mal hohe dann wieder tiefe Klangniveau der Chöre. Sakrale Schwermut, Altar aus Holz.
Das Titestück „Myopia“ wiederum ist surreal. Lässt sich wohl am wenigsten in die sonstige Homogenität einbinden. Es ist fliessend, die Streicher fügen eine Hemmung ein, verlangsamen und drehen. Acryl auf Papier. Das folgende „Drosera“ wiederum liesse sich in jeden Horrorthriller versetzen. Durch die Saitenanschläge der Violinen und der immer gleichen 5 Anschlägen auf dem Klavier entsteht diese atemlose Spannung. Es scheint ein Flötenspiel zu geben und als die Erregung nicht mehr zu halten ist folgt keine Erlösung. Alles bleibt still. Fotografie, Schwarz Weiss mit Diffusion. Dann „Parliament of Owls“ das sich beinahe schon selbst erklärt. Allein der Name ist Poesie. Holzschnitt auf Edelpapier. Ein Mäandern durch diffuse Landschaft erst ganz leise klingend, dann aufbäumend und wieder verschwindend. Viel zu Kurz für eine solche Grenzenlosigkeit. Versöhnlich romantisch schliesst „Won’t You Call Me“ die bisher von Schwere getragene Exposition ab. Überaus sanft und nur getragen von Stimme und Stimmen im Echo sowie dem Piano, führt das Stück ganz langsam aus der Verlorenheit zurück. Stilleben in bunten Wasserfarben
Agens Obel ist auch mit Ihrem vierten Werk „Myopia“ eine Ausnahmeerscheinung. Warum die Scheibe übersetzt Kursichtigkeit heisst, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Bestimmt jedoch hat es nichts mit der eigentlichen medizinischen Verwendung zu tun. Angesichts der schwebenden Schwere die das Album vermittelt, mag man an nichts Gutes denken. Wie wohlig das hie und da Sanftheit in diesen schimmernden Rissen der Songs entsteht und dadurch Melancholie, das wohl freudigste Wort das für dieses Album verwenden werden kann. Ist das denn noch Musik? „Myopia“ ist wohl tatsächlich nicht fürs Ohr gemacht. Es schwappt und wiegelt, träumt und schmerzt, lebt und stirbt für die Seele.
Tracklist:
1. Camera’s Rolling
2. Broken Sleep
3. Island Of Doom
4. Roscian
5. Myopia
6. Drosera
7. Can’t Be
8. Parliament Of Owls
9. Promise Keeper
10. Won’t You Call Me
Bandmitglieder:
Agnes Obel
Text: Sebastian Leiggener