Second Unit – Die Filmkolumne
Text: Michael Bohli
Wie schön, zeigte sich die Sonne an den letzten Tagen des Zurich Film Festival 2020 doch noch so richtig. War es ein Beweis, dass sich die Entscheidung, das Festival trotz allen möglichen Gefahren und Widrigkeiten vor Ort stattfinden zu lassen, ausgezahlt hat? Ich denke ja, denn trotz Massnahmen und Restriktionen war die 16. Ausgabe ein angenehmer Anlass. Mit dem Schwerpunkt auf Hong Kong, der neuen Welt Sicht Frankreich und der Sonderreihe #GetUpStandUp bewies das ZFF Gespür für wichtige und aktuelle Themen. Die Filmauswahl überzeugte und liess eher unbekannte Gebiete und Namen neu strahlen.
Ich mied dieses Jahr die grossen Produktionen, auch weil die Eintrittspreise besonders im Bereich der Gala-Premieren sehr hoch sind, dafür entschied ich mich für sechs Filme neben dem Strom. So wurde ich nicht nur mit ungewohnten Formen und Sprachen konfrontiert, sondern frischen Perspektiven und lange nachhallenden Umsetzungen.
Die Informationen zu den diesjährigen Gewinnerfilme der Wettbewerbe findet man hier.
Fatal Visit / 聖荷西謀殺案
Regie: Calvin Poon
Musik: Jeff Danna
Land, Jahr: Hongkong und China, 2020
Website: imdb.com
Wenn die weibliche Hauptperson Ling in der Mitte des Filmes ein Puzzle fertigstellt, dann widerspiegelt dies den Beginn der neusten Regiearbeit von Calvin Poon sehr gut. Denn in der anfänglichen Viertelstunde werden Szenen und Aufnahmen präsentiert, die sich erst mit der Zeit zu einem mörderischen Thriller entwickeln. Gut gefilmt und gespielt, verdichtet sich der Film zu einer immer brutaleren Story über Menschen aus Hong Kong im Exil.
Leider entpuppt sich das Gerüst am Ende als eher plump und etwas überspitzt dargestellt. Wobei gesagt werden muss, dass sich durch das extreme Spiel der Schauspieler und den hübschen Bildern ein Pendant zu Hollywood bildet, das mit dessen Formeln geschickt umgeht. Trotzdem wäre mehr Tiefe wünschenswert gewesen.
Proxima
Regie: Alice Winocour
Musik: Ryūichi Sakamoto
Land, Jahr: Frankreich und Deutschland, 2019
Website: imdb.com
In der Welt der Raumfahrt sind Astronautinnen immer noch in der Minderzahl, Filme über sie sowieso. Alice Winocour präsentiert mit ihrer neusten Produktion eine der wenigen Ausnahmen und schafftes, den weiblichen Blick auf die Thematik zu richten. Feinfühlig und feministisch, ohne jemals moralisch zu überborden oder in einfache Muster zu verfallen. Als Gegenstück zu First Man beispielsweise. Das Spannungsfeld der männlich dominierten Branche wird aufgesprengt, wichtige Fragen zu Mutterschaft und Engagement angegangen.
Eva Green brilliert in der Hauptrolle und vermag es, alle Emotionen zu transportieren und hätte jede Auszeichnung verdient. Besonders die Szene mit ihrer Filmtochter (Zélie Boulant-Lemesle) gehen unter die Haut und wagen ehrliche Kommentare zur Doppelbelastung von Müttern in der Arbeitswelt. Im Verbund mit den realistischen Aufnahmen, gedreht an Originalschauplätzen, ist Proxima ein mehr als interessanter Film, nicht nur über die Forschung im Weltraum. Und es ist immer schön, Matt Dillon und Sandra Hüller auf der Leinwand zu erleben.
The Assistant
Regie: Kitty Green
Musik: Tamar-kali
Land, Jahr: USA, 2019
Website: imdb.com
Was konnte man nicht alles zur #MeToo-Bewegung und dem Skandal um Harvey Weinstein lesen und sehen – doch meist ging dabei die weibliche Perspektive vergessen. Bestes Beispiel dafür war der unrunde Film Bombshell. Mit dem ersten Spielfilm von Kitty Green wird dieses Manko auf fulminante Art behoben. Ruhig und subtil begleitet man eine Assistentin (eindringlich: Julia Garner) durch ihren normalen Arbeitstag und erlebt, wie tief die Probleme in der Filmbranche verankert sind.
Alle wissen Bescheid, Frauen werden auf unterschiedliche Weisen unterdrückt und fast niemand möchte daran etwas ändern. Eindringlich die stillen Szenen, brutal die niemals effekthascherischen Dialoge. Dank diesem Film werden die Missstände endlich in ihrer ganzen Tragik aufgezeigt und uns allen vor Augen geführt: Gut ist es noch lange nicht. Ein Pflichtprogramm für alle.
Preparations to be Together for an Unknown Period of Time
Regie: Lili Horvát
Musik: Gábor Keresztes
Land, Jahr: Ungarn, 2020
Website: imdb.com
Wann ist man verliebt, wann ist man bereit für die Liebe? Fühlt sich ein solcher Zustand nicht oft wie ein Traum an? Die ungarische Regisseurin Lili Horvát entführt mit ihrem neusten Werk in eine Welt, in der man nie sicher sein kann, ob das gezeigte wirklich passiert, oder man selbst einem Zauber unterlegen ist. Schauspielerin Natasa Stork führt betörend durch die Geschichte, die Aufnahmen ergänzen das Gebotene mit lebensnahen Bildern auf 35mm-Film.
Ein ruhiger Film, der spannend aufgebaut ist, mit der Dualität spielt und damit immer wieder Unsicherheiten streut – bis man am Ende selbst entscheiden kann, wie alles nun ausgeht. Ein richtig oder falsch gibt es nicht, wie meist im Leben.
Ballad For A Pierced Heart
Regie: Yannis Economides
Musik: Jean-Michel Bernard
Land, Jahr: Griechenland, Frankreich, Deutschland und Zypern, 2020
Website: imdb.com
Die Coen-Brüder in Griechenland? Erstaunlich, wie gut sich die neuste Regiearbeit von Yannis Economides mit einem solch destillierten Satz beschreiben lässt. Und genau da lag für mich das Problem, Ballad For A Pierced Heart hätte mehr sein können. Sicherlich wird man trotz den 140 Minuten Laufzeit immer unterhalten und darf zusammen mit den Charakteren von einer tragisch-komischen Situation in die nächste stolpern, irgendwann verlor sich durch den repetitiven Charakter der Szenen aber etwas die emotionale Intensität.
Mit einem perfektionierten Stil und stark eingefangenen Bildern läuft der Film immer rund, bis die unvermeidbare Brutalität ausbricht. Diese Explosion am Ende ist kurz und heftig, was allerdings durch die immer sehr lauten und aggressiven Dialoge angekündigt wird. Wer auf direkten Humor und einen ungeschönten Blick auf den schmuddeligen Untergrund Griechenlands steht, der wird hier mehr als gut bedient.
Better Days
Regie: Derek Kwok-cheung Tsang
Musik: Varqa Buehrer
Land, Jahr: Hongkong und China, 2019
Website: imdb.com
Leistungsdruck und Neid führen an den Schulen in China sehr oft zu Mobbing unter den Schüler*innen. Das kann soweit gehen, dass Jugendliche im Selbstmord den Ausweg suchen. Ein weltweit bekanntes Problem, das leider zu oft nur zurückhaltend diskutiert wird. Der Film Better Days versucht diesen Umstand zu ändern und war in China ein grosser Erfolg. Verständlicherweise, ist die Geschichte um Chen Nian und ihre Probleme sehr vereinnahmend und schämt sich nicht, Momente und Gefühle gross darzustellen.
Das erinnert in der melodramatischen Weise ab der Mitte des Filmes gar an die Anime-Kultur, weiss aber trotzdem zu berühren. Besonders wer sich von starken Überzeichnungen nicht abschrecken lässt und ein Faible für leichten Kitsch hat, wird vom, mit Preisen ausgezeichneten Werks Derek Kwok-cheung Tsangs mitgerissen werden.