Second Unit – Die Filmkolumne
Text: Michael Bohli
Ein Vorteil heimischer gegenüber internationalen Produktionen: Man darf sich mit kleinen Eigenheiten, Geschichtsmomenten oder spezifischen Entwicklungen beschäftigen. Leider wird dieser Umstand selten genutzt, um die Schweizer Filme als Mittel einzusetzen, Bildung und Unterhaltung zusammenzuführen. Ja, Zwingli und Bruno Manser konnte kürzlich man auf der Leinwand begegnen, doch wirklich fesselnd sind schlussendlich Szenarien, welche unsere moderne Gesellschaft beeinflusst und verändert haben. Der folgende Film handelt von einem solchen.
Platzspitzbaby
Regie: Pierre Monnard
Musik: Matteo Pagamici
Land, Jahr: Schweiz, 2019
Website: platzspitzbaby.ch
Wer heute über den Platzspitz hinter dem Landesmuseum in Zürich spaziert, der würde niemals vermuten, dass sich vor wenigen Jahren an der Stelle die weltweit grösste, offene Drogenszene befand. In den Achtziger- und Neunzigerjahren trafen sich im „Needle Park“ täglich bis zu 3000 Süchtige um den Rausch zu frönen. Das beschäftigte nicht nur die Anwohner, sondern die Polizei und vor allem auch das medizinische Personal. Notrufe gab es unzählige, Probleme jeglicher Art waren die Begleiter.
Bis der Park 1992 geschlossen wurde, ohne eine gesamtheitliche Lösung für die Problematik der Süchtigen gefunden zu haben. Die Misere verlagerte sich, eine Präventive war nicht vorhanden, Einzelpersonen, Familien und Kinder wurden in ihre Heimatgemeinden zurückgeschickt. So auch Michelle Halbheer und ihre Mutter, was im Buch Platzspitzbaby nachzulesen ist. Und mit diesem Schicksal als Leitfaden, haben Regisseur Pierre Monnard und sein Team nun den gleichnamigen Film gedreht, der weit mehr als ein unterhaltender Streifen ist.
Die emotionale Geschichte um die junge Mia (grossartig in der ersten Rolle: Luna Mwezi), welche versucht ihr Leben gemeinsam mit ihrer süchtigen Mutter Sandrine (eindringlich, Sarah Spale) am neuen Wohnort im Zürcher Oberland zu bewältigen, ist eine wichtige Aufarbeitung und ein Lehrstück zugleich. Bereits die ersten Minuten von Platzspitzbaby werden so manche Erinnerungen wecken, mit der detaillierten Rekonstruktion des Drogenparks. Und darum ging es den Machern auch, um das wachrütteln von vergessenen Tragödien, um das gesellschaftliche Bewusstsein. Denn bis heute leben immer noch tausende von Kindern und Jugendlichen mit ihren süchtigen Eltern zusammen – ohne Hilfe zu erhalten.
Hilfe gibt es für Mia im Film nur von der jugendlichen Clique, welcher sie sich anschliesst. Halt und Vertrauen, eine Notlösung und eine Heilung zugleich. Ohne zu sentimental zu werden, begleitet Platzspitzbaby Mia durch den harten Alltag und weiss dies mit toll gefilmten Bildern und einer guten Soundmischung zu untermalen (plötzlich sind die persönlichen Erinnerungen an die Neunziger wieder da). Dank der coachenden Begleitung für das Dramaturgische und Darstellerische wirkt selten etwas holprig, die klassischen Klischees werden umschifft. Gerade das Szenenbild und die Kamera wissen, wie man sogar einfache Dialogszenen packend gestalten kann.
Auch wenn mich Platzspitzbaby emotional nicht immer vollständig abholen konnte, ist der Film auf jeden Fall sehenswert. Die Charaktere sind weder zu platt noch überzeichnet, die Wendungen nachvollziehbar, der Inhalt ungeschönt. Und wichtig: Man wird zum Nachdenken angeregt.
Die Spielzeiten findet man bei Cinefile.