Second Unit – Die Filmkolumne
Text: Michael Bohli
Bildrausch Filmfest 2019
Stadtkino und Kult.Kino – Basel
bildrausch-basel.ch
Filmfestivals zu besuchen, das ist für mich immer ein wundervolles Erlebnis. Denn für einen oder mehrere Tage kann man sich nicht nur daran erfreuen, brandneue Produktionen vor ihrem landesweiten Release auf einer grossen Leinwand und in Originalsprache zu sehen, nein auch die Vergangenheit ist immer ein wichtiger Teil dieser Veranstaltungen. Denn im Kino wären wir, wie überall sonst auch, heute nicht an dem jetzigen Punkt ohne die visionären Vorarbeiten und Künstler*innen. Und wo sonst als an einem intelligent programmierten Fest kann man ältere Werke noch auf der Leinwand erleben?
Das kleinere und noch nicht so bekannte Bildrausch Filmfest in Basel bewies gerade in diesem Punkt bei der diesjährigen und neunten Ausgabe viel Feingefühl und Weitsicht. Während sich im Wettbewerbsprogramm „Cutting Edge“ die internationalen Filme vor allem damit beschäftigten, die Welt in all ihren möglichen und unmöglichen Facetten zu vermessen, wurde mit dem Nachhall zu Reni Mertens und Walter ein wichtiges und kunstvolles Kapitel in der Geschichte des Schweizer Dokumentarfilms neu belebt. Die Werke des Duos haben bis heute nichts von ihrer Intensität und Dringlichkeit verloren und bieten immer wieder neue Möglichkeiten, die nationale Gestalt der Fünfziger- bis Achtzigerjahre frisch zu erfassen.
Ob der ruhmreiche „Ursula und das unwerte Leben“ oder der abschliessende „Requiem„, dieser Nachhall war Herausforderung und Würdigung zugleich. Etwas zugänglicher, aber nicht weniger aufrüttelnd war die Retrospektive des italienischen Dokumentarfilmers Gianfranco Rosi, der mit seinen Produktionen die Gegenwart ungeschönt abbildet. Wunderbar auch, dass man sich beim Bildrausch dazu bewegen konnte, den minimalistischen Film „El Sicario, Room 164“ in das Programm aufzunehmen. Denn hier bewies Rosi, dass filmische Dokumente auch mit starker Reduktion grossartig funktionieren können. So erfährt man von einem mexikanischen Profikiller aus erster Hand, wie hart und unmenschlich es im Drogenkrieg zu und her geht. Ein Mann erzählt, die Kamera hält drauf.
Ebenso direkt und ohne Wertung dirigierte Nikolaus Geyrhalter seine neuste Produktion „Earth – Erde„: Der Film ist ein ästhetisches Essay über den menschlichen Umgang mit der Erde. Aufgenommen in riesigen Steinbrüchen, auf gewaltigen Baustellen und zwischen Höllenmaschinen und uralten Gesteinsschichten – subtil und meditativ. Ohne direkte Kritik zu üben ist der Film ein fesselndes Erlebnis, welches die zerstörerische Kraft unserer Spezies gnadenlos offenbart.
Spielzeiten findet man bei Cinefile.
In technisch furioser Art wurde auch bei „They Shall Not Grow Old“ die Gewalt und Brutalität des Menschen auf die Leinwand gebracht. In der Dokumentation von Peter Jackson („The Lord Of The Rings“, „The Hobbit“) tauchte man in das Geschehen des ersten Weltkrieges ein und erlebte die Archivaufnahmen nicht nur als rasche Schnittabfolge, sondern digital aufgearbeitet – in Farbe, 3D und komplett nachvertont. Ein bemerkenswertes Erlebnis, aber auch eines, das mit der technischen Augenwischerei weder den Wert dieser Aufnahmen, noch die emotionale Dringlichkeit vergrösserte. Dem Film half es leider auch nicht, dass der Off-Kommentar, welcher aus über 100 Aussagen von Soldaten aus dem Krieg zusammengeschnitten wurde, die Bildebene nie präzise traf.
Spielzeiten findet man bei Cinefile.
Nahe der Perfektion durfte man sich hingegen bei den Filmen im Wettbewerb wähnen. Weitsichtig, fesselnd und immer mit starkem Bezug zur Gegenwart bot das Programm ein wahres Feuerwerk an Bild, Montage und Inhalt. Wer sich am Donnerstagmorgen zu „Monos“ von Alejandro Landes in den Bürgerkrieg von Kolumbien versetzen liess, der erlebte eine kinematografische Tour de Force, welche als Anti-Kriegsfilm mit Kindersoldaten erbarmungslos die Spirale der Gewalt thematisierte. Unglaublich gut gefilmt, mit Laiendarsteller*innen besetzt und nachhaltig in der Aussage.
Spielzeiten findet man bei Cinefile.
Psychologisch ebenso aufwühlend war das Portrait zweier Frauen der griechischen Region von Mesolongi: Der Regisseur Syllas Tzoumerkas hat mit „To thávma tis thálassas ton Sargassón“ ein fulminantes Psychodrama inszeniert, das sich nicht nur mit Genrewechsel, sondern hypnotischen Bildern und einer schockierenden Geschichte zeigt. Auch wenn nicht alles sofort erfassbar ist und gerade auch die wiederkehrenden Traumsequenzen den Film noch abstrakter erscheinen lassen, ist diese Herausforderung eine der besten, welche man 2019 in den Kinos erleben wird. Aufrüttelnd, aktuell und politisch konfrontierend.
Spielzeiten findet man bei Cinefile.
Die Gewinnerfilme vom Bildrausch Film Fest 2019:
„Ich war zuhause, aber“ von Angela Schanelec, Bildrausch-Ring der Filmkunst
„A volta ao mundo quando tinhas 30 anos“ von Aya Koretzky, Peter-Liechti-Preis
„Îmi este indiferent dacă în istorie vom intra ca barbari“ von Radu Jude, lohnenswerte Erwähnung