Second Unit – Die Filmkolumne
Text: Michael Bohli
Wer sich dieses Jahr nicht nach Solothurn an die Filmtage gewagt hat, oder lieber via Streaming Filme geniesst, der sollte sich auf der Plattform Play Suisse umschauen. Der Dienst der SRG SSR ist in den Radio- und TV-Gebühren inkludiert und steht nach einer kurzen Registration allen zum freien Genuss offen. Von der Bedienung ähnlich wie die bekannten Anbieter aufgebaut, erhält man aktuelle, nationale Produktionen aus den Bereichen Serie, Film und Dokumentation, sowie eine immer grösser werdende Menge an Titeln aus dem Katalog.
Das ist nicht nur eine willkommene Abwechslung zum linearen TV-Programm oder den amerikanischen Kulturaspekten weiterer Streamingdienste, sondern die perfekte Gelegenheit, das Schweizer Filmschaffen in allen Facetten zu entdecken. Glaubt mir, es lohnt sich. Damit der Einstieg etwas leichter fällt, findet ihr nachfolgend einige Tipps, welche einen Einblick in das Angebot bieten und an der Oberfläche kratzen.
Übrigens geben Filmfestivals ihre Empfehlungen auf der Site ab. Unter dem Reiter «Festivals» findet ihr spannende Erwähnungen und kuratierte Listen.
Alle Infos zum Dienst und die Inhalte sind hier zu finden.
Mit Chrieg ist Simon Jaquemet 2015 ein Drama gelungen, das die direkte Indie-Darstellung in die Schweiz transportiert und ungeschminkt die Situation in einem Erziehungscamp für Jugendliche aufzeigt. Der Titel ist Programm, wenn auch auf ungeahnte Weise, der Film geht unter die Haut.
Wärmer und luftiger Mare (Andrea Štaka, 2020), wunderschön auf 16mm-Film gedreht und von Marija Škaričić mitreissend gespielt. Ein Drama über Sehnsucht und Träume im Erwachsenenleben, über die Suche nach Eigenständigkeit. Ohne laute Töne nimmt der Film gefangen.
Bei Sister (im Original L’enfant d’en haut, Ursula Meier, 2012) treffen die grossartigen Schauspielerinnen Léa Seydoux und Gillian Anderson auf die Trostlosigkeit und das Prekariat in den Schweizer Bergen. Mit einer unaufgeregten Erzählweise untersucht der Film Armut, Verbrechen und die Hinterlassenschaften von Eltern.
Noch internationaler Die Wolken von Sils Maria von Meister Olivier Assayas. 2013 und mit namhafter Besetzung (Juliette Binoche, Kristen Stewart, Chloë Grace Moretz, Lars Eidinger und Johnny Flynn) gedreht, ist die Geschichte über Ruhm, Erfolg und Neid nicht immer einfach zu durschauen aber stets faszinierend.
Blue my mind von Lisa Brühlmann hat 2017 nicht nur Luna Wedler und Zoe Pastelle Holthuizen europaweit bekannt gemacht, sondern die Mechanik des Coming-Of-Age mit Mystery kombiniert. Wir begleiten die jungen Frauen bei ihrer Reise ins Erwachsenenalter und sehen die Veränderungen als fantasievolle Metaphern. Beeindruckend umgesetzt.
Tief unter die Haut geht Eldorado (Markus Imhoof, 2018). Die Dokumentation untersucht die Schweiz als Land der Neutralität im Angesicht von Flucht und Migration. Der renommierte Regisseur Imhoof Blick dazu in die Zeiten des zweiten Weltkrieges zurück und nimmt die aktuelle Flüchtlingskrise in den Fokus. Das wühlt auf und hinterfragt die persönliche Position.
Ebenfalls mit scharfen Kommentaren ausgestattet ist der Episodenfilm Heimatland (2015). Zehn Regisseur:innen haben unser Land und die vorherrschende Mentalität auseinandergenommen, um diese als apokalyptischer Film neu zusammenzusetzen. Versinken wir in unserem Wohlstand? Eine Produktion, die in der herrschenden Pandemie mehr als relevant bleibt.
Humoristischer aber nicht ohne treffende Sozialkritik die musikalische Komödie Trommelwirbel (Tambour battant, François-Christophe Marzal, 2019). In einem Dorf im Wallis liefern sich in den Siebzigerjahren zwei Musikkapellen einen Wettkampf, bei dem sogar die Abstimmung über das Frauenstimmrecht das Rampenlicht verlassen muss.
Abstrakt und voller ungewohnter Kameraperspektiven, wir die nahe Zukunft der Schweiz in Dene wos guet geit als trostlos-lakonische Existenz dargestellt. 2018 von Cyril Schäublin inszeniert und als bester Schweizer Film ausgezeichnet, ist die Erzählung eine besondere und trockene Erfahrung mit vielen Ebenen, die es zu erforschen gilt.
Viele Schichten findet man auch in Cronofobia (Francesco Rizzi, 2018): Verlust und Einsamkeit, wie geht man damit um, wie erholt man sich von der Trauer? Mit einem grossartigen Drehbuch geht es diesen Fragen auf den Grund. Nicht nur die Angst vor dem Verlauf der Zeit und somit vor Veränderungen steht im Zentrum, sondern das Verlangen nach Empathie und Liebe. Fesselnd, zu Beginn geheimnisvoll und bis zum Schluss intensiv.
Regisseurin Anja Kofmel arbeitet in Chris The Swiss (2017) den Tod ihres Cousins Christian Würtenberg beeindruckend auf, der sich im Jugoslawienkrieg als Journalist einer Söldnertruppe anschloss und unter diffusen Umständen ums Leben kam. Der Film besteht zu grossen Teilen aus Archivmaterial, Interviews und der Dokumentation der Nachforschungen, die Kofmel anstellte. Animiert wurden die Szenen aus Chris‘ Zeit in Kroatien – eine Notwendigkeit, da seine eigenen Aufzeichnungen nie gefunden wurden.
Ende der Sechzigerjahre beherrschte das Bond-Fieber die Filmwelt, alle wollten ein Stück vom Kuchen –auch die Schweiz. Mit L’inconnu de Shandigor entstand 1966 keine billige Kopie, sondern ein surrealistisch angehauchter und tiefironischer Film über Atombomben, Machtmissbrauch und verfeindete Agenten. Etwas zu lose in der Inszenierung, überzeugen die absurd-komischen Momente, die wunderbar inszenierten Bildern und das übertriebene Schauspiel diverser Personen. Ein Kuriosum zwischen Godard und Buñuel, selbstsicher von Jean-Louis Roy gedreht.