Band: Owen
Album: The Avalanche
Genre: Singer/Songwriter / Indie Folk
Label: Big Scary Monsters
VÖ: 19. Juni 2020
Webseite: owenmusic.com
Auf dem Albumcover erstreckt sich ein jahrtausendealter Gletscher zur Kamera. Über ihm ragt ein mächtiger in Nebel gehüllter Felsen aus dem ewigen Eis. Mike Kinsella alias Owen setzt darüber den Titel «The Avalanche» – die Lawine. Ein Moment der Irritation: Das Bild strahlt vollkommene Ruhe aus, der Titel dazu suggeriert das Gegenteil. Und damit ist das Konzept dieses Albums umrissen. Das Bild verkörpert die Musik von „The Avalanche“, dessen Titel die Lyrics.
Die Indie-Ikone aus Chicago nimmt die akustische Gitarre als Basis seiner Songs. Im Opener „A New Muse“ gibt er das Fahrttempo an – mit einem offenen Singer/Songwriter-Riff, tröpfelnden Pianotönen und einer gleichmütig gesungenen Melodie. Später schickt Kinsella die clean gespielte E-Gitarre mehrfach durchs Reverb-Pedal, um einen breiten, orchestralen Klang zu erzeugen. So als sollte sie den Gletscher vom Cover klanglich darstellen. In „Dead For Days“ zupft er sein Instrument dann zärtlich und kreiert dadurch eine Soundbasis wie einen leise plätschernden Gletscherbach. Über den Song legt er unaufgeregte Streicher, die das Bild des ruhenden Gletschers erneut aufnehmen.
Diese beiden Soundelemente lässt er in jedem Song wiederkehren, teils separiert, teils ineinander verwoben – und damit taucht das Gletschermotiv auf dem gesamten Album, in jedem einzelnen Track auf. Und es verfehlt seinen Zweck nicht, entzieht den Tracks jegliche Dringlichkeit, verleiht ihnen Ruhe ausserhalb von Zeitkonzepten.
Allerdings hat das auch eine klangliche Gleichförmigkeit zur Folge, die dem Album einen meditativen Charakter verleiht, das bewusste Hinhören jedoch erschwert.
Dabei würde sich das zumindest aus lyrischer Sicht lohnen, denn hinter der ruhenden Klanglandschaft verbirgt sich ein emotionales Spektakel. Mittig in „Dead For Days“ etwa fliegt einem plötzlich die Zeile „I’ve Got Friends That Don’t Know Me, A Wife That’s Disowned Me“ um die Ohren. Die Trennung von seiner Frau ist dabei nur eines von zwei Themen, die Owen auf dem Album in den Vordergrund stellt. Im Song geht’s letztlich auch darum, wie sein Bruder den leblosen Körper seines Vaters fand. Den Verlust greift er in „Mom And Dead“ erneut auf – „Mom And Dead, Never Together, Forever, An Overseas Tragedy“ singt er. Und dreht die Tragödie weit über den Tod seines Vaters hinaus zur grundsätzlichen Dysfunktionalität in seiner Familie.
Owen lässt seiner Verzweiflung und Selbstkritik in den Texten freien Lauf. Er habe etwa den Ruf, alles Mögliche zu vermasseln, bloss um eine Sache – in diesem Fall die Beziehung – aufrecht zu erhalten, singt er in „On With The Show“, einem der schönsten Popsongs aus seinem Oeuvre überhaupt. Er bringt so sein eigenes Scheitern in der Beziehung in Zusammenhang mit jenem seiner Eltern, das ihm durch den Tod seines Vaters so viel stärker auf der Seele brennt. Denn „I Had A Dream You Died, I Can’t Wake Up, You Didn’t Say Goodbye“.
Die Songtexte offenbaren einen Menschen mit vielen Brüchen. Owen trägt seine Depressionen über die Musik an die Öffentlichkeit. Das hat etwas Entblössendes – gerade in Zeilen wie „I Can’t Have My Cake And Fuck It Too“. Doch benötigt er das Ventil und den Spiegel seiner eigenen Musik als Therapie. Das Sinnbild seiner selbst ist der Gletscher, der nicht nur die Ruhe darstellt, sondern auch all die gespeicherten, für immer eingefrorenen Erlebnisse. Die Zeit als Lawine bedroht ihn und seinen Erfahrungsschatz dabei existenziell. Das ewige Eis ist ein Trugschluss, der Gletscher, also Owen, steckt in einer Identitätskrise. Und einen Ausweg sieht er nicht. Zumindest nicht auf „The Avalanche“.
Tracklist:
1. A New Muse
2. Dead For Days
3. On With The Show
4. The Contours
5. I Should’ve Known
6. Mom And Dead
7. Headphoned
8. Wanting And Willing
9. I Go, Ego
Bandmitglieder:
Mike Kinsella
Gründung:
2001
Text: David Kilchoer