Grand Hotel van Cleef / VÖ: 11. November 2022 / Post-Hardcore
fjort.de
Text: Michael Messerli
Aktuell ernähren sich ungefähr fünf Prozent der Schweizer Bevölkerung vegetarisch. Das ist nicht «Nichts», aber diese Zahl steigt auch nur langsam. Ganz unabhängig von eigener Gesinnung bzw. eigenem Verhalten könnte man nun reisserisch schreiben, dass die moralisch Überlegenen hier noch klar in der Minderheit sind. Fjørt erheben aber nicht einfach den moralischen Zeigefinger, wobei schon der Begriff «Moral» mindestens eine Masterarbeit wert wäre, sie kehren zuerst unmissverständlich vor der eigenen Haustüre. «Fick dich David», schreit David Frings in «Kolt» sich selber an und erzählt von einem, der die Lotterie gewonnen hat, 1985 als weisser Mann in ein reiches Land geboren wurde und trotzdem von Selbstzweifeln geplagt wird, weil er das Gefühl hat, «Nichts» zu tun und keine Mittel zu haben, um das offensichtliche Leid in der Welt zu lindern.
Damit verbunden wirft er die Frage auf, was Kultur hier eigentlich konkret ausrichten kann. Man sei zwar «gnadenlos informiert», aber fülle mit seinen Texten keine hungernden Bäuche. Und so erlebt man bei Fjørt Pessimismus in fast jedem Text, die bittere Realität in fast jedem Ton. Ein harter Aufprall, in hohem Tempo in die Fangnetze geschleudert. Natürlich trägt die Band aus Aachen mit ihrem sehr variablen Post-Hardcore mehr als «Nichts» bei. Längst nicht alle Menschen haben so viel Rückgrat und hauen es mit so viel Leidenschaft öffentlich raus. Eine der spannendsten Bands Deutschlands reflektiert ihr eigenes Tun. Geschrei und Gesang haben in diesen dreizehn Songs neu mehr Variation. So erinnern die Texte manchmal ein bisschen an Turbostaat und die Musik an Van Holzen («Fernost»). Und trotzdem bleiben Fjørt erkennbar, beinahe klassisch schon wirkt ein Lied wie «Bonheur» – nicht nur wegen dem französischen Titel. Das können sie immer noch sehr gut.
Dass die neuen Spielarten zuweilen etwas in Theatralik münden, an die man sich gewöhnen kann, ist die angebotene Angriffsfläche. Das Zaudern, Grübeln und Zweifeln sowie ein «schwarzer Gürtel im Vermeiden» tun ihr Übriges. In einem Forum schrieb jemand etwas von zu viel Trübsinn. So grüssen Fjørt denn auch ihr Label Grand Hotel van Cleef weder entschuldigend noch rechtfertigend, sondern mehr erklärend, dass hier kein Platz sei für Hoffnung. Kann man es ihnen denn wirklich verübeln? Die globale Lage strahlt schliesslich auch keine aus. Also.
Wäre da dann noch die Sache mit dem Fleischessen, die im Song «Lakk» gleich zusammen mit Kapitalismuskritik abgehandelt wird: «Wer im Jahr des Einundzwanzig/ Noch Tiere konsumiert/ Gehört geteert und dann gefedert/ Vor die Schlachtbank transportiert». Klare Orientierungsvorschläge für die eingangs angesprochene Mehrheit. Ob und wie diese Botschaft ankommt? Das ist nicht nur hier eine der grossen Fragen unserer Zeit. Information, Aufklärung und Haltung – das und noch viel mehr kann Kultur leisten. Die Frage ist, wer zu- und wer weghört. Es ist ja nicht so, dass man von hier aus «Nichts» tun könnte.