Sony Music / VÖ: 27. Juni 2025 / Rock
brucespringsteen.net
Text: Torsten Sarfert
Mit «Tracks II – The Lost Albums» öffnet Bruce Springsteen sein Archiv: sieben bislang unveröffentlichte Alben, aufgenommen zwischen 1983 und 2018, erzählen von Wegen, die nie zu Ende gegangen sind, von Platten, die nie das Licht der Welt erblickten – obwohl sie es verdient gehabt hätten. Was hier gebündelt erscheint, ist keine Sammlung von B-Seiten oder übrig gebliebenen Skizzen, sondern eigenständige Werke, in sich geschlossen, musikalisch und thematisch kohärent. Und ganz nebenbei musikalische Psychogramme eines Mannes, der oft auf seinen grössten Hit und das gleichnamige Album «Born In The U.S.A.» reduziert wird. «Tracks II – The Lost Albums» ist ein tiefer Einblick in die verletzliche Seele eines der grössten Künstler unserer Zeit, der sich nie von seinem rechtschaffenen Weg abbringen liess.
Der Reigen beginnt mit «LA Garage Sessions ’83», das in einem winterkalten Garagenstudio in Los Angeles zwischen dem düsteren Akustikalbum «Nebraska» und dem stadiontauglichen Welterfolg «Born In The U.S.A.» aufgenommen wurde. Diese Sessions zeigen Springsteen an einem Scheideweg: allein mit Gitarre, Orgel, einem simplen Aufnahmegerät – und vielen Fragen. Songs wie «Follow That Dream» sind roh, ungeschönt, fast brüchig. Eigentlich ein kleines Wunder, dass nach den reduzierten und introspektiven Songs von «Nebraska» und den «LA Garage Sessions ’83» fast nahtlos das epochale und vergleichsweise monumentale «Born In The U.S.A.» erschien.
1993 wagte er mit den «Streets Of Philadelphia Sessions» einen weiteren radikalen Sprung. Die Songs entstanden im Umfeld seines gleichnamigen Soundtracks zum Film «Philadelphia» und entfernen sich weit von der klassischen Ästhetik, die er mit seiner E-Street Band pflegt. Elektronische Loops, Drum Machines, düstere Synthesizerflächen – Songs wie «Something In The Well» wirken wie Vorboten des digitalen Zeitalters, geprägt von Isolation, Rückzug und innerer Spannung. Es ist wohl die aussergewöhnlichste Sammlung innerhalb der Box: ein Bruce Springsteen, der mit Technologien experimentiert, mit Struktur bricht und dennoch ganz bei sich bleibt. Dass diese Stücke über Jahrzehnte im Archiv ruhten, ist beinahe unfassbar.
«Faithless», entstanden um 2005, gehört zu den stilleren Überraschungen. Ursprünglich als Musik für einen geplanten Western-Film gedacht, entfaltet sich hier eine spirituelle Klangwelt: instrumental, meditativ, tief in der amerikanischen Landschaft verwurzelt. Diese Platte hat nichts mit Hits zu tun. Sie besteht aus musikalischen Stimmungen, mal wie ein Sonnenaufgang über der Mojave-Wüste, mal wie ein letzter Blick über die Schulter. Springsteen tritt hier in erster Linie als Komponist und Klangmaler auf, reduziert, fokussiert und ohne Pose.
«Somewhere North Of Nashville», die Country-getränkte Sammlung aus den Jahren um 1995, steht im Kontrast zum gleichzeitig entstandenen «The Ghost Of Tom Joad». Statt politischer Schwere gibt’s hier Geschichten aus der Kleinstadt, von Truckfahrern, Sündern, verlassenen Frauen und verlorenen Männern. «Repo Man», «Delivery Man» – das ist Honky-Tonk mit Springsteen’schem Blick. Keine Parodie und kein Ausflug, sondern echte Countrymusik, ungekünstelt, rau, mit Pedal Steel und Dreck an den Stiefeln.
Noch tiefer taucht er in «Inyo» ein , benannt nach dem kalifornischen Grenzbezirk nahe Mexiko. Auch dieses Album entstand Mitte der 1990er-Jahre, ist aber musikalisch eine vollkommen andere Welt: Mariachi-Einflüsse, spanische Gitarren, Geschichten über Flucht, Sehnsucht, Gewalt und Hoffnung. Hochaktuell. Songs wie «Ciudad Juárez» oder «Adelita» sind kleine Filme, die (manchmal sogar auf Spanisch) immer aus dem Blickwinkel der Vergessenen erzählen. «Inyo» ist ein eindrückliches Beispiel für Springsteens Fähigkeit, sich musikalisch und erzählerisch radikal zu verwandeln und dabei weitere Aspekte (nord-)amerikanischer Roots-Musik abzubilden.
«Twilight Hours», ursprünglich als Schwesteralbum von «Western Stars» gedacht, wirkt wie ein Blick in denselben Himmel bei Nacht. Die Songs sind opulenter orchestriert, dunkler im Ton, getragener in der Stimmung. «Sunday Love», «September Kisses» oder «Follow The Sun» sind keine Stadionhits, sondern Kinomusik voller Glanz und Schwermut. Es ist Springsteens Roy-Orbison-Moment, seine späte Verbeugung vor einer romantisch-verlorenen Ästhetik, in der Liebe und Verlust zwei Seiten derselben Münze sind.
Den Abschluss bildet «Perfect World», eine Art Best-of der nie veröffentlichten E-Street-Hymnen. Songs aus verschiedenen Jahrzehnten, vereint durch die Power, die Melodien und das Pathos, das Fans seit «Born To Run» begleitet. «Rain In The River» oder «Another Thin Line» sind klassische Bruce-Stücke, mit donnerndem Schlagzeug, aufsteigenden Saxofonlinien und Refrains, die man beim ersten Hören mitsingen will. Dieses Album zeigt, dass Springsteen jederzeit hätte liefern können, was das Publikum wollte, sich aber oft bewusst dagegen entschied.
Die physische Veröffentlichung dieser sieben verlorenen Alben ist ebenso liebevoll wie durchdacht. «Tracks II» erscheint in einer opulenten Box – wahlweise auf CD oder Vinyl – mit jeweils eigenem Artwork für jedes Album, inspiriert von Ära und Atmosphäre der Songs. Ein umfangreiches Booklet liefert Hintergründe, Liner Notes, Fotos und handschriftliche Lyric-Faksimiles. Es ist nicht nur eine Musikveröffentlichung, sondern ein Archivobjekt, ein Kunstwerk – leider auch mit einem entsprechenden Preis.
Wer sich einen Überblick verschaffen will, aber vor Umfang und Preis zurückschreckt, für den bietet der separate Sampler «Lost And Found: Selections From The Lost Albums» eine konzentrierte Variante. Die 20 Tracks umfassende Auswahl versammelt einige der zugänglichsten und emotionalsten Songs der Box. Sie dient als Türöffner, spart jedoch die kantigen, experimentellen oder besonders stillen Stücke – und natürlich die gesamthaften Stimmungen der einzelnen Alben – weitgehend aus. «Lost And Found» ist gefällig und gut kuratiert, aber in Anbetracht des vorliegenden Gesamtwerks letztlich nur ein unbefriedigender Teaser.
«Tracks II – The Lost Albums» zeigt den Boss als Chronisten, Komponisten, Grenzgänger, Traditionalisten und Innovator. Vor allem aber zeigt es ihn als nahbare, hochemotionale, relevante Grösse und Gegenpol im zunehmend algorithmenbasierten Musikangebot. Ganz grosses Kino!
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