SO Recordings / VÖ: 10. Mai 2024 / Post Punk
bigspecial.co.uk
Text: Peter Burckhardt
Die Schere zwischen Elite und Arbeiterklasse ist in Englands Geschichte tief verankert und noch immer allgegenwärtig. Großbritannien versinkt immer tiefer in der Krise und die Leidtragenden sind wie eh und je die Menschen der untersten Klasse, denen Chancen auf finanziellen und sozialen Aufstieg verwehrt bleiben. Big Special aus Birmingham geben diesen Leuten mit ihrem Debut Album “Postindustrial Hometown Blues” eine Stimme. Joe Hicklin, der seit seinem zwölften Lebensjahr als Hilfsarbeiter gearbeitet hat, weiss, wovon er spricht und begann bereits früh, systemkritische Gedichte zu schreiben, welche er später als Singer-Songwriter in Songs verpackte. Als er merkte, dass seiner Musik eine Ebene der Aggression und Energie fehlte, wandte er sich an seinen früheren Bandkollegen Callum Moloney, der zu dieser Zeit als Session-Schlagzeuger arbeitete und daher bereits eine Idee hatte, wie man mit Musik etwas Geld verdienen kann. Gemeinsam entwickelten sie Joe’s Songs weiter und packten sie auf ihr Album, welches am 10. Mai 2024 auf die Leute aller Klassen losgelassen wird.
Ganz klar Post Punk? Jein. Die Energie und die Wut ist spürbar und auch lyrisch nimmt Joe Hicklin kein Blatt vor den Mund. Doch was dieses Duo auf ihrem Debut Album vertont hat, ist ein vielschichtiger Mix, den ich so noch nie zuvor gehört habe. Ohne mit der Wimper zu zucken werden die unterschiedlichsten Stilrichtungen kombiniert. Bereits der Opener “Black Country Gothic“ ist ein Wechselspiel aus bissigen Spoken Word Strophen und einem melodiösen Refrain, der fast schon an Bruce Springsteen erinnert. Die Gesangslinien der Refrains von “Desperate Breakfast” und “Shithouse” könnten ebenso gut von den Arctic Monkeys stammen. Der klagende Refrain von “This Here Ain’t Water” erinnert mich eher an die Black Keys oder an Jack White. Eigentlich verdient jeder einzelne Song eine kleine Rezension und Vergleiche könnte ich noch viele aufzählen. Und doch haben Big Special eine unverkennbare Identität.
Der Ursprung, sprich Joe’s Gedichte, bilden den Kern des Albums in Form der vielen Spoken Word Passagen. “Broadcast: Time Away”, “Mongrel” und “For The Birds” sind sogar eher akustisch untermalte Gedichte als Songs, die sich aber wunderbar in das Gesamtkonzept einfügen. Als Kontrast bietet sich zum Beispiel das durchgehend gesungene und unglaublich eingängige “Black Dog / White Horse” an, welches sich unweigerlich ins Langzeitgedächtnis bohrt. “Postindustrial Hometown Blues” ist ein Werk, das durch seine Abwechslung die Spannung immer aufrechterhalten kann. Die vielen gesprochenen Zeilen könnten für einige Hörer:innen etwas gewöhnungsbedürftig sein, wer aber den Hintergrund der Entstehungsgeschichte kennt, wird diesen Aha-Effekt erleben und das Ganze vielleicht aus einer anderen Perspektive betrachten.
Big Special sagen von sich selbst, dass sie weder “Big” noch “Special” sind. Bei “Special” bin ich anderer Meinung. Leider gibt es nicht mehr viele Künstler:innen, die den Mut aufbringen, Klartext zu reden und eine kritische Message, aber auch Hoffnung mit einer Prise Humor in die Welt tragen. Ich bin davon überzeugt, dass diese Ehrlichkeit im musikalischen Schaffen auch eine Chance bedeutet, “Big” und ein Vorbild für alle im unfairen Klassensystem gefangenen Menschen zu werden.