13. August 2018
Winterthurer Musikfestwochen
Bands: Gysbert zu Knyphausen / Die Nerven / The Two / Long Tall Jefferson / Obacht Obacht / Big Thief / Adams Wedding / No Me Coman
Der Regengeruch liegt in der Luft, der Himmel ist wolkenverhangen und durch die Winterthurer Altstadt strömen herzerwärmende Gitarrenmelodien und verträumter Gesang. Big Thief eröffnet diesen Montagabend auf der Steinberggasse, und dass es Montag ist, scheint hier keiner richtig zu bemerken: Es wird gegessen und getrunken, man trifft alte Freunde oder lauscht einfach ein bisschen der Musik der vierköpfigen Band aus Brooklyn. Einen weiten Weg haben sie hinter sich, doch der scheint sich gelohnt zu haben, denn die Freude unten in der Gasse ist gross.
Kaum haben sich die letzten Klänge in den Nebengässchen und Hauseingängen verloren, beginnt Long Tall Jefferson sein Ein-Mann-Programm auf der Startrampe, welche sich auf dem mittleren der drei Steibi-Brunnen befindet. Obacht Obacht, die junge Frauenfelder „Bedroom Rock’n’Roll Extravaganza“-Band, welche eigentlich für diesen Auftritt geplant waren, mussten sich leider aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig zurückziehen. Stattdessen geraten die Besucher der Musikfestwochen in den Genuss beruhigender Folkmusik, die direkt die Stimmung, die bereits beim Konzert von Big Thief aufgekommen ist, aufgreift.
Zeitgleich geht es auch auf dem Kirchplatz folkig zu und her: Adams Wedding treten heute als Strassenmusiker auf. Doch das Wetter macht den Musikfestwochen einmal mehr einen Strich durch die Rechnung und noch bevor die Band ihr Set zu Ende spielen kann, flüchtet sich jeder unter den nächstbesten Unterstand. Ein heftiger Regenguss, gepaart mit Blitz und Donner und unangenehmen Windböen, scheucht die Konzertgäste ins Albani, den Eingang der Stadtbibliothek oder zur überdachten Schlemmerei. Dort ist es bald schon so eng, dass man keinen Schritt mehr tun kann – aber immerhin ist es trocken. Die Stimmung ist trotzdem noch einigermassen ausgelassen, und als ein Grüppchen ein Geburtstagsständchen einstimmt, singt die ganze Schlemmerei mit.
Nach etwas mehr als einer halben Stunde lässt der Regen nach und man traut sich wieder ins Freie. Vor der Hauptbühne in der Steibi haben sich auch schon einige Freunde der Deutschen Sprache eingefunden, denn als nächstes auf dem Programm steht Liedermacher Gysbert zu Knyphausen. Der sympathische Wiesbadner ist mit Band unterwegs, ausgestattet mit Schlagzeug, Bläsern, Keyboard und Bass. Doch als er seine Bandmitglieder vorstellen will, gerät er kurz ins Stocken. Seine lachend hervorgebrachte Erklärung: „Mein Gehirn ist heute so Brei, ist alles ins Herz geschossen, seit ich Big Thief gesehen habe.“ Doch leider wird Winterthur an diesem Abend besonders auf seine Regenfestigkeit getestet und nach kurzer Zeit bricht ein neuer Schwall über der kleinen Grossstadt aus. Erneut flüchtet sich ein Grossteil der Besucher ins Trockene oder, falls dem Wetterradar zu sehr geglaubt wurde und die Regenjacke zu Hause geblieben ist, man kauft sich einen Poncho am Infostand. Doch das Publikum auf der Steinberggasse hat drastisch an Dichte verloren und manche haben inzwischen den Heimweg angetreten. Auch auf dem Kirchplatz, wo sich The Two mit ihrem Bluesrock alle Mühe geben, ihre Zuhörer warm zu halten, sieht es nicht viel anders aus: Ein harter Kern bleibt, doch bei diesem kalten Regen macht das Ganze irgendwie auch einfach ein bisschen weniger Spass. Zumindest sind so wahrscheinlich die letzten Spuren der Kindermalerei, welche Bestandteil des sonntäglichen Familienprogrammes war und wohl etwas ausgeartet ist, beseitigt.
Zum Glück gibt es an den Musikfestwochen ja auch ein paar warme und trockene Plätzchen. So zum Beispiel im Albani, welches an diesem Montag auch gerade seinen 30. Geburtstag feiert. Sowieso ist das Albani an diesem Abend Anlaufstelle für mehr als nur ein paar MFW-Besucher, denn nach Eintreten der Nachtruhe und Konzertende in der Steibi und auf dem Kirchplatz geht es hier direkt weiter. Die Nerven aus Stuttgart locken mehr Neugierige an, als das Albani aufnehmen kann – innert kürzester Zeit ist es stickig und heiss, ich kann mich nicht erinnern, das kleine Konzertlokal bereits einmal so vollgestopft erlebt zu haben. Und trotz schüttendem Regen bildet sich vor dem Klub eine beeindruckende Schlange. Wem die Lust vergangen ist, kann sich noch immer zur Sahara Bar umwenden, denn auch da hat das Abendprogramm gehörig was auf dem Kasten: No Me Coman, eine lokale Spezialität, präsentieren ihr neues Album.
Mich zieht es ins Albani, und obwohl mich bei dem Massenansturm kurz Zweifel überkommen, ob ich die richtige Wahl getroffen habe, so bereue ich meine Entscheidung doch nicht. Die Energie, die von den drei Musikern auf der engen Bühne überschwappt, bringt das Publikum gehörig ins Schwitzen, und bald schon lässt sich nicht mehr klar sagen, ob das T-Shirt jetzt durch den erbarmungslosen Regen oder die eigenen Ausdünstungen so nass geworden ist. Die Nerven treten ihren Gästen mit arschcooler „mir doch egal“-Attitüde gegenüber, singen und schreien, holen alles aus ihren Instrumenten. Nebst dem Spielen mit Rhytmus und Dynamik treibt das Trio auch ein Spiel mit dem Schallpegel. Das Publikum wird aufgefordert, so laut zu sein, wie nur möglich um zu sehen, ob die Musiklautstärke überschritten werden kann. Gitarrist und Sänger Max Rieger kommentiert nach einem Blick auf die Dezibelmessung: „Das grenzt ja an Körperverletzung!“ Die Band baut selbst auch leise Parts ein, worauf sogar fast alle auf der Tanzfläche und auf der Galerie für einen Moment verstummen. Max Rieger behält die rot und grün leuchtenden Zahlen im Auge, wartet, bis der Schallpegel sich angenehm gesenkt hat – nur um dann umso lauter wieder los zu legen.
Auch Bassist Julian Knoth weiss, wie mit dem Mikrofon umzugehen ist und die Gesangsparts wechseln sich zwischen ihm und Max Krieger ab, wobei auch Platz für Zweistimmigkeit bleibt. Nach einer bemerkenswert langen Pause tritt die Band noch einmal auf die Bühne, wobei sich nun der Mann an den Drumms, Kevin Kuhn, Gitarre und Mikrofon schnappt. Angestimmt wird Lenny Kravitz‘ „Fly Away“ – die Besucher steigen sofort darauf ein und ein letztes Mal an diesem Abend scheint das Albani zu kochen. Samt Gitarre bahnt sich Kevin Kuhn einen Weg durchs Publikum, lässt sich auf den Boden fallen und wird prompt von ein paar starken Händen aufgehoben und über die Köpfe des Publikums zurück zur Bühne getragen. Die Nerven hinterlassen durstige, verschwitzte, doch sehr zufriedene Menschen. Und haben ihrerseits sicherlich ein paar neue Anhänger gefunden.
Text: Sarah Rutschmann