57. Solothurner Filmtage
19. bis 26 Januar 2022
Website: solothurnerfilmtage.ch
Text: Michael Bohli
Nicht nur bei der Festivalleitung waren Zweifel und Befürchtungen gross, doch die ersten Projektionen und Veranstaltungen an der 57. Ausgabe der Solothurner Filmtage haben bewiesen: Die Liebe zum Kino ist stärker als die herrschenden Widrigkeiten. Erneut haben sich interessierte Personen und Kreativschaffende in der Aarestadt eingefunden, um dem Schweizer Film den nötigen Raum zu geben.
Nicht nur wehen die Flaggen im Wind, überall in den Gassen der Altstadt finden sich Filmposter und die Schaufenster der Geschäfte tragen stolz das Logo der Ausgabe. Kino ist zurück, egal ob im Wettbewerb Prix de Soleure oder als weitgreifende Übersicht im Programmbereich Panorama. Es gibt vieles nachzuholen, zu entdecken und zu besprechen. Und mit dieser grossflächigen Begeisterung setzt man sich voller Vorfreude in die dunklen Räume und Säle.
Das gesamte Programm findet ihr hier.
Taming The Garden / Grosser Baum auf Reise
Land / Jahr: Schweiz, Deutschland, Georgien / 2021
Regie: Salomé Jashi
Website: tamingthegarden-film.com
Ein grosser Baum wird, in tagelanger Arbeit, mitsamt Wurzeln dem Erdreich enthoben. Er wird eine Reise antreten, durch Strassen, über Berge und über das Schwarze Meer, um ein neues Zuhause zu bekommen. Um ihm den Weg freizumachen, müssen neue Strassen gebaut werden und andere Bäume ihr Leben lassen. Es ist ein logistischer Wahnsinn.
Hinter dem Projekt steht ein reicher Mann; er sammelt alte Bäume. Wir wissen, dass es sich bei dem Mann um den ehemaligen georgischen Premierminister Bidsina Iwanischwili handelt, doch der Film zeigt und benennt ihn nicht; er bleibt eine namenlose, rätselhafte treibende Kraft hinter den absurden Verschiebungen. Die Bilder, die Regisseurin Salomé Jashi zeigt, sind ruhig und beinahe meditativ, von skurriler Schönheit. Sie fokussiert aber nicht nur die Bäume; oft stehen auch die Menschen im Vordergrund, deren Umgebung sie entrissen werden.
Wet Sand
Land / Jahr: Schweiz, Georgien / 2021
Regie: Elene Naveriani
Website: imdb.com
Konflikte lauern im Spielfilm von Elene Naveriani, die in Genf lebende Regisseurin hat sich mit ihrer ruhigen und wundervoll gefilmten Erzählung „Wet Sand“ in die Heimat Georgien zurückbegeben, um dort das ländliche Küstenleben zu beleuchten. Das Titelgebende Strandcafé ist Dreh- und Angelpunkt für die statischen Tage, es treffen sich die immer gleichen Personen zu den immer gleichen Gesprächen. Als sich der Aussenseiter Eliko das Leben nimmt und dessen Enkelin Moe an den Ort zurückkehrt, wird nicht nur der Alltag von Amnon und Fleshka durcheinandergebracht.
Ruhig sind die Szenen, jede Geste und jeder Blick trägt viel Gewicht mit sich. Während Naveriani mit kurzen TV-Einspielungen die Aussenwelt mit all ihrer Zerstörung und dem Chaos kurz an der stoischen Oberfläche von Wet Sand kratzen lässt, ist das Filmgeschehen gefangen in Lähmung und der Präsenz alter Geister. Die Figuren stehen wie bei Roy Andersson in der Landschaft, die Sozialkritik an der georgischen Gesellschaft schleicht sich mit jeder Minute näher heran. Ein beeindruckender Film, der die Hoffnung nicht ausschliesst und trotz allen Repressionen Lebensmut und -sinn zulässt. «Follow Your Fucking Dreams», niemand hat gesagt, es werde einfach.
The Mushroom Speaks
Land / Jahr: Schweiz / 2021
Regie: Marion Neumann
Website: themushroomspeaks.ch
Einmal im Leben haben wir uns bestimmt alle in den Wald begeben, auf der Suche nach leckeren Pilzen. Bestenfalls mit einer fachkundigen Begleitperson, danach zusammen am grossen Tisch mit heiss dämpfender Speise. Doch Pilze sind mehr als Nahrung oder Grundlage für Heilmittel, sie umspannen mit ihrem Netzwerk den gesamten Planeten, sind Heilbringer und Beschwörer des Endes. Nachdem sich der Mensch lange von diesen Gewächsen abgewandt hatte, entstand in den letzten Jahren eine riesige Begeisterung, die sich sogar mit der Rettung unserer Spezies beschäftigt.
Ob sich durch Forschung, Aufzucht und Studie von Pilzen und Flechten den destruktiven Wandel umkehren lässt, das ist fraglich. Marion Neumann zeigt mit ihrem Dokumentarfilm «The Mushroom Speaks» aber auf, welche Wunder und Möglichkeiten bislang missachtet wurden. Die Produktion ermöglicht eine aufregende neue Sicht auf das Thema, als Kontrast zur schrägen Romantik bei «The Trufle Hunters» (Michael Dweck, Gregory Kershaw / 2020) und näher am Mockumentary «The Creeping Garden» (Tim Grabham, Jasper Sharp / 2014).
Mit den merkwürdigen, elektronischen Sounds in der Tonspur, den Off-Kommentaren, die in reiner Textform eingeblendet werden und Gedanken, Poesie und Wissenschaft mischen, ist «The Mushroom Speaks» ein Film, der Angst, Wunder und wissenserweiternde Momente in sich birgt.
Lux
Land / Jahr: Schweiz / 2021
Regie: Mateo Ybarra, Raphaël Dubach
Die Milizarmee der Schweiz ist seit vielen Jahrzehnten ein Streitthema zwischen patriotischer Huldigung und gesellschaftlichem Dorn. Welchen Sinn es für unser Land macht, alle jugendlichen Männer zu Soldaten auszubilden, wird im Dokumentarfilm «Lux» von Mateo Ybarra und Raphaël Dubach nicht diskutiert. Die beiden Regisseure bieten einen nüchternen Blick ohne Wertung, im Fokus die zehntätige Grossübung im Raum Genf aus dem Jahre 2019. Fiktive Terroristen griffen das Land an, die Schweizer Armee fuhr mit 1500 Soldaten auf, um der Bedrohung Herr zu werden.
Mit einer Kamera und ohne konkretes Vorwissen zum Übungsablauf gefilmt, zeigt die Produktion einzelne Aspekte und Momente dieses Ereignisses, nahe an den Menschen und mit Auge für Details. Dadurch werden nicht nur die absurden Aspekte eines solchen «Spiels» offengelegt, als Zuschauer:in tappt man alsbald in die Falle der bekannten Hollywood-Mechaniken. Der Soundtrack von der Genfer Band L’Eclair etwa zaubert cineastische Dimensionen in die Aufnahmen, man verliert sich stellenweise in den inszenierten Scharmützeln. Auch wenn «Lux» am Schluss die Energie verliert und ein zu abruptes Ende setzt, ist der Film ein seltener Einblick in den Armeegeist.
Vorangestellt wurde der Projektion der Kurzfilm «Action» von Benoît Monney. Eine humoristische Darstellung eines Filmsetzt und eine kleine Abrechnung mit den Widrigkeiten im Business. Als One-Take inszeniert und mit witzigen Einfällen versehen – hoffen wir, dass die Realität für filmschaffende Personen geniessbarer ist.
Une histoire provisoire
Land / Jahr: Schweiz, Luxemburg / 2022
Regie: Romed Wyder
Die Bühne im Landhaus war fast zu klein, als nach der Weltpremiere alle Gäste eingeladen wurden, sich zum Regisseur Romed Wyder zu gesellen. Schauspieler:innen und Personen aus diversen Abteilungen genossen die Vorführung mit dem Publikum, «Une histoire provisoire» bot angenehme Unterhaltung im Mischbereich zwischen Comedy und Drama. Eine Spur Romantik, etwas träumerisches Fantasieren und das Zusammenprallen diverser Kulturen – fast wollte der Spielfilm zu Beginn gar in Richtung Screwball abbiegen.
Die absurden Überzeichnungen fügten sich aber schnell der gefühlvollen Untersuchung spontaner Momente im Leben. Eine Iranerin, eine US-Amerikanerin und ein Schweizer zusammen in einem Airbnb, das birgt Neugierde, Vorurteile und Potential. Der Film weiss dies leider nicht genügend auszuschöpfen und hätte mehr Tiefgang vertragen, tappt aber nicht in die Klischeefalle. In dieser Geschichte ist die schwarze Katze kein Unglücksbringer, das Luftholen in der Ungewissheit wird durch andere Menschen unterstützt.
Man vergisst schnell, dass die Handlung vor allem durch die Midlife-Crisis eines weissen Mannes getragen wird, denn das Spiel von Pooneh Hajimohammadi und Felipe Castro überzeugt, die Musik von Bernard Trontin setzt spannende Akzente.