Solothurner Filmtage 2021
An einem Filmfestival teilzunehmen hat eine eigene Magie – man lässt sich von der Filmwelt komplett umschliessen und versucht, in dem existierenden Überangebot seine persönliche Linie zu finden. Kein einfaches Unterfangen, das oft interessante Überraschungen und Verknüpfungen bietet. So auch an der digitalen und 56. Ausgabe der Solothurner Filmtage, welche seit gestern stattfinden. Mit dem Eröffnungsfilm Atlas werden schwierige Fragen zu Migration und Angst gestellt, Yalda nimmt uns in den heutigen Zwiespalt im Nahen Osten mit und Nachbarn Blick auf die herrschenden Spannungen in Syrien und den damit verbundenen Fluchtbewegungen. Aktueller, wichtiger und intelligenter kann man auf der Leinwand zurzeit fast nicht agieren, schön also, fanden diese Filme alle den Weg ins diesjährige Programm.
Praktische Informationen:
Die Filmplattform ist online und der Festivaldesk eröffnet: Für sämtliche Online-Filmvorführungen können auf unserer Website ab sofort Tickets gekauft und die Filme reserviert werde. Die Filme sind ab dem Eröffnungsabend am 20. Januar 2021 gemäss ihrem jeweiligen Starttag verfügbar.
Alle Filme starten während des Online-Festivals täglich um 12 Uhr und am Eröffnungsabend um 22 Uhr. Die Filme bleiben nach dem Filmstart während 72 Stunden online verfügbar. Einmal gestartet, bleiben Ihnen 36 Stunden Zeit, um den Film / das Filmprogramm fertig zu schauen.
Das Programm ist aus rechtlichen Gründen nur in der Schweiz verfügbar.
https://vimeo.com/500924307
Atlas
Land / Jahr: Schweiz, Belgien, Italien / 2021
Regie: Niccolò Castelli
Website: niccolocastelli.ch
„Libera“ rufen sie, wenn eine Kletterroute freigegeben wird und die nächste Person das Seil nutzen kann. Doch die Freiheit verliert Allegra (Matilda De Angelis) bei einem Urlaub in Marokko, ihre Freunde sterben und sie muss ohne Gleichgewicht im Leben weitermachen. Atlas untersucht als Film die Zeit nach dem Terroranschlag, das Trauma, die Trauer, die Wut. Dies alles zu überwinden ist für die junge Frau nicht einfach, auch nicht, als sie einen Flüchtling kennenlernt.
Mit sanften Tönen beginnt Niccolò Castelli seinen neuen Film und überlässt es zuerst den Zuschauer*innen, die Geschichte zusammenzufügen. Das macht die Erzählung um Fremdenfeindlichkeit und Verlust fesselnd, De Angelis nutzt diesen Raum mit ihrem Spiel. Je mehr Minuten verstreichen, desto emotional intensiver wird die Produktion und die Schatten scheinen alles zu übernehmen. Mit der Beleuchtung und dem zurückhaltenden Sounddesign wird die Isolation der Hauptfigur unterstrichen, die Aufnahmen aus dem Tessin lassen die Schweiz fern und warm erscheinen.
Überhaupt: Atlas ist ein weiterer Film aus dem Süden unseres Landes, der durch Anbindung an die Realität und das echte Empfinden überzeugt. Eine Entwicklung, die zum Beispiel mit „Cronofobia“ (Francesco Rizzi) und „Love Me Tender“ (Klaudia Reynicke) beobachtet werden konnte und hoffentlich noch lange weitergeht. Schön, darf in einer Clubszene ein Liveauftritt von Camilla Sparksss erlebt werden. Von Niccolò Castelli ist an der 56. Ausgabe auch „Tutti giù“ mit Lara Gut zu sehen.
Atlas läuft vom 20. bis 23. Januar.
Yalda, la nuit du pardon
Land / Jahr: Schweiz, Frankreich, Deutschland, Luxemburg / 2020
Regie: Massoud Bakhshi
Website: closeupfilms.ch
Nachdem Maryam ihren Mann Nasser unter unklaren Umständen getötet hat, wird sie nach iranischem Recht zum Tode verurteilt. Ihre letzte Chance auf Leben erhält sie durch die Teilnahme an einer Realityshow im Fernsehen, bei der Mona, die Tochter von Nasser, sie begnadigen kann. Doch kann Maryam Mona von ihrer Trauer und ihrem Hass wegbringen? Und auf welche Seite werden sich die Zuschauer*innen bei der SMS-Abstimmung schlagen?
Yalda ist ein aufreibender und sehr intensiver Film. Massoud Bakhshi zeigt ein modernes Bild vom Iran und lässt in der Geschichte Fiktion, Wahrheit, Fortschritt und Tradition zu einem fast monströs wirkenden Amalgam verfliessen. Die kühlen und modernen Oberflächen im Fernsehstudio stemmen sich gegen den uralten Glauben und die barbarische Praxis der Hinrichtung. Mit schnellen Schnitten und durcheinandersprechenden Figuren wird die Nervosität und das Gefühl der Verlorenheit zu Beginn perfekt dargestellt, die leeren Zuschauerränge im Auditorium entlarven am Ende der Sendung die menschliche Beteiligung.
Jede*r hat eine Meinung zu Leben und Tod, zu Schuld und Verzeihung, sich jedoch zu positionieren und Verantwortung zu tragen, das will man nicht. Technik bedeutet Distanz und Abstraktion – Yalda spannt mit diesen Bildern geschickt den Bogen ins universale und alltägliche. Kein einfach verdaubarer, aber ein wichtiger Spielfilm.
Yalda läuft vom 21. bis 24. Januar.
Nachbarn
Land / Jahr: Schweiz / 2021
Regie: Mano Khalil
Website: frenetic.ch
„Was sie sagen ist egal, was sie machen ist wichtig.“ Sero hätte die Essenz des Daseins eigentlich begriffen, doch leider will die Welt nicht logisch funktionieren. So erlebt er im Nordosten Syriens als kurdischer Junge in den frühen Achtzigerjahren, wie der extreme Nationalismus nicht nur die Umgebung und sein Dorf verändert, sondern die Bewohner und direkten Nachbarn. Früher war alles eins, heute ist es ein unlösbares Puzzle aus Hass, Missgunst und Feindlichkeit.
Mano Khalil hat mit dem Spielfilm Nachbarn eine kleine Geschichte verfilmt, die eine abgelegene Region Syriens mit warmen Farben und aus den Augen eines Kindes aufzeigt. Gemalte Bilder dienen als Reflektion, die arabische Sprache ist zuerst unverständlich, eine gefundene Landmine aufregend. Dabei wird das Wort Nachbarn auf diversen Ebenen untersucht, bei Ländern, Kulturen, dem Glauben und Hausbewohnern. Sanft und ohne Hast wird der Alltag beschrieben, ein Ensemble an Figuren bespielt die kleine Fläche, in der sich der Film bewegt.
Khalil beweist viel Feingefühl mit seinen Szenen und Aufnahmen und spricht mit Nachbarn die grundsätzliche Menschlichkeit in uns allen an. Dabei reicht es aus, dass der Film wie eine Lupe funktioniert und niemals das Gesamtbild erklären muss.
Nachbarn läuft vom 23. bis 26. Januar.
Text: Michael Bohli