Norient Film Festival Bern 2022
Website: nff-bern.ch
Text: Michael Bohli / Artwork: Elias Chen
Mit der elften Ausgabe kehrt das Norient Film Festival wieder nach Bern zurück, 2021 musste man sich mit Streams auf dem eigenen Sofa begnügen, jetzt dürfen die auserwählten Kurz- und Langfilme, Diskussionen zu Podcasts und weiteren Darbietungen erneut vor Ort genossen werden. Das ist sehr schön, lebt das journalistische Schaffen des Onlinemagazins Norient davon, Menschen, Kulturen und kreative Strömungen zusammenzubringen.
Eine Weltreise die diesjährige Ausgabe, mit zusätzlichen Auftritten, Installationen und Darbietungen. Wir haben uns vorab eine Auswahl des Filmprogramms angeschaut, um euch einen Überblick der Themenvielfalt und der Tiefe des Filmfestivals zu bieten. Hingehen, staunen und Grenzen überwinden.
Das 11. Norient Film Festival findet vom 12. bis 16. Januar 2022 in Bern und online statt.
Das komplette Programm findet ihr hier.
A Symphony Of Noise
Land / Jahr: Deutschland / 2020
Regie: Enrique Sánchez Lansch
Musik: Matthew Herbert
Website: asymphonyofnoise.com
Einatmen, ausatmen. Hinhören. Was umgibt uns? Welche Geräusche formen die Welt? Für den Künstler Matthew Herbert ist Musik nicht bloss die Wiedergabe von Noten und kompositorischen Gedanken, sondern das Dasein mit allen Facetten. Davon zeugt sein Oeuvre, das mit Werken wie «One Pig», der Brexit Big Band oder dem Buch «The Music: A Novel Through Sound» unglaublich vielseitig ist. Enrique Sánchez Lansch hat den Musiker für seinen Dokumentarfilm A Symphony Of Noise zehn Jahre lang begleitet.
Das Resultat ist ein Einblick in die kreative und empathische Welt Herberts, in der jeder Gedanke zu einem neuen Projekt anwachsen kann – in der die Grenzen der Ordnung gesprengt werden. Politische Inhalte werden zu Sounds, Klänge und Geräusche zu einem Manifest. Fernab von den clubtauglichen Tracks der ersten Jahre in der Karriere. Der Versuch, die Menschheit dazu zu bringen, den Planeten mit neuen Ohren zu erlauschen, innezuhalten und zuzuhören, gelingt nicht nur bei den Arbeiten des Künstlers, sondern auch mit dem Film. Ein faszinierendes Portrait, das sich niemals auf die Person versteift, sondern eine intelligente Gesamt aufzuzeigen vermag.
Der Film läuft im Programm Block 7: Sound, Cities, And Politics, And A Refugee In Noise.
Flow
Land / Jahr: Niederlande, Frankreich / 2019
Regie: Adriaan Lokman
Musik: Erik Stok
Website: squareeyesfilm.com
Sich für einmal überfordert und beruhig zugleich fühlen? Mit dem animierten Kurzfilm Flow ist das möglich. Adriaan Lokman präsentiert das unsichtbare Element Luft in visuell beeindruckenden Elementen. Pfeile schwirren umher, Linien bewegen sich, die Geometrie wird zu organischen Formen und macht das Leben sichtbar.
In zeichnerischer Dichte ist die Produktion optisch überraschend und mitreissend. Szenen aus der Grossstadt werden zu einem Fadengewirr, Nebengeräusche treten ins Zentrum. Lokman erzählt keine definierte Geschichte, sondern bietet eine Momentaufnahme mit kleinen und grossen Dingen, in der Geräusche und Empfindungen fassbar werden, sowie Stress und Entspannung zugleich existieren.
Der Film läuft im Programm Block 1: Hybrid Poetic Films For A Territorial And Spiritual Journey.
Here We Move Here We Groove
Land / Jahr: Niederlande / 2020
Regie: Sergej Kreso
Website: balkanbeats.eu
Wer in den letzten 20 Jahren im Nachtleben unterwegs war hatte auf jeden Fall Kontakt mit Tanzmusik aus dem Balkan. Daran ist zu einem grossen Teil Robert Soko schuld, der nach seiner Flucht vor dem Jugoslawienkrieg in Berlin die Partyreihe «Balkan Beats» gründete und europaweit zu einem Grosserfolg führte. Die Dokumentation Here We Move Here We Groove von Sergej Kreso setzt später an, im Heute, bei der Suche nach dem europäischen Sound und einer hoffnungsvollen Zukunft für den Kontinent.
Das ist auf der einen Seite faszinierend und offenbart viele Ebenen und Facetten, verliert ab der Hälfte aber den Fokus und die Dringlichkeit. Der Film packt zu viel in die Laufzeit und verliert den Blick auf Soko, der eine sehr interessante Persönlichkeit ist. Es fehlt ein abschliessendes Fazit, trotz reflektierten Aussagen zum Thema Migration und Flucht. Das persönliche Schaffen wird zur universalen Handlung, leider nur ausgefranst dargestellt.
Lima Screams
Land / Jahr: Peru / 2018
Regie: Dana Bonilla, Ximena Valdivia
Website: facebook.com
Einem klassischen Narrativ folgt Lima Grita von Dana Bonilla und Ximena Valdivia nicht. Die Regisseurinnen zeigen mit ihrem Film ein szenisches Werk, das die peruanische Hauptstadt Lima aus der Sicht der experimentellen Musiker:innen des Untergrunds präsentiert. Soziopolitische Probleme werden den Sounds und Versuchen gegenübergestellt, Aufnahmen des Alltags treffen auf Momente der Nacht, auf Partys in Kellern und Wohnungen. Über allem die Jams, Konzerte und Improvisationen.
Man könnte zu Lima Grita sehr wohl in Gedanken abdriften, es lohnt sich aber, konzentriert dabeizubleiben. Zwar werden nur wenige Dialoge geboten und die Dokumentation bleibt angenehm rätselhaft, die einzelnen Momente fügen sich aber mit der Zeit zu einem spannenden Ganzen zusammen. Widerstand und Tradition, Schönheit und Wagnisse – eine Stadt im Wandel, eine Gesellschaft mit Mut und Sehnsucht.
Der Film läuft im Block 2: Symphonies Against Sexism With A Bizarre Urban Sound.
Max Richter’s Sleep
Land / Jahr: UK, USA / 2019
Regie: Natalie Johns
Musik: Max Richter
Website: nataliejohns.com
Allen Besucher:innen des Norient Film Festival sei es herzlich empfohlen, Max Richter’s Sleep im Kino zu geniessen. Der Dokumentarfilm von Natalie Johns ist ein Werk zwischen Mystik und Realität, ein wundervoller, berührender und intimer Film. Nachdenklich und melancholisch stimmende Passagen wechseln sich mit purer Schönheit ab, die Open-Air-Aufführung des Albums in Los Angeles bildet den eindrücklichen Rahmen – angenehm ruhig bebildert.
Nicht nur wird das schier unmögliche Unterfangen des acht Stunden dauernden Konzertes aufgezeigt, sondern die Hintergründe zur Tour, zum Album «Sleep» und den wissenschaftlichen, psychologischen Gedanken erörtert. Max Richter und Produzentin Yulia Mahr bieten Einblicke in ihr privates Leben und das Dasein als Künstler:in, Sorgen und Probleme treffen auf den ewigen Zauber der Musik. Einiges bleibt bis zum Schluss in der Schwebe, das Herz wird dafür stark berührt und die Sehnsucht nach einem solchen Konzerterlebnis geweckt.
Neon Phantom
Land / Jahr: Brasilien / 2021
Regie: Leonardo Martinelli
Website: imdb.com
Nicht einmal in Neonfarben sind sie sichtbar, die Fahrradkuriere in Brasilien. Das Leben ist kein Musical, auch wenn das Prekariat in Neon Phantom so dargestellt wird. Anstatt die Personen in den Mittelpunkt zu stellen, verherrlicht die Gesellschaft das Konsumgut und verhindert eine gerechte Arbeitssituation. Leonardo Martinelli nahm dies als Grundlage für seinen leicht ausgefallenen Kurzfilm, der mit ironischem Unterton in den Strassen der Grossstadt spielt.
Als Kritik und Unterhaltung zugleich mischt Neon Phantom Tradition und Moderne des Lebens. Tanzstile treffen aufeinander, Ansichten und Tätigkeiten des Alltags. Martinelli gelingt somit eine ernste Beschäftigung mit brennenden Themen, ohne den Witz zu vergessen. Es ist nicht nur der Traum von João nach einem Motorrad, sondern der Wunsch vieler Menschen, nach einer gerechteren und sorgenfreien Zukunft.
Der Film läuft im Block 4: Alienated Souls Strive For Individual Freedom.
The Devil’s Harmony
Land / Jahr: UK / 2019
Regie: Dylan Holmes Williams
Musik: Finn Keane
Website: imdb.com
Eines Tages beginnen die Sporthelden an der Schule einzuschlafen, urplötzlich und nichts kann sie wieder aufwecken. Hat Kiera (super, Patsy Ferran), die Streberin und Leiterin des A-Cappella-Club etwas damit zu tun? Viel Zeit zum Rätseln bleibt beim Genuss von The Devil’s Harmony nicht, der Kurzfilm ist bereits nach einer Viertelstunde vorüber und das gruslige Spiel beendet. In der Zeit weiss Regisseur Dylan Holmes Williams aber sehr gut zu unterhalten und vermischt musikalische Elemente mit den Standards des High-School-Horrors.
«Children Of The Corn» trifft auf eine ästhetische Inszenierung, die mit Pastellfarben, grobkörnigen Aufnahmen und sehr gelungenem Sounddesign die Klischees der Horrorfilme unterwandert. Nerds gegen Prolos, Ballspiel gegen Gesang. Ein herrlicher Spass, der bestimmt in Hollywood zu einem verwässerten und überzeichneten Spielfilm umgebaut werden wird. Dabei reichen die 15 Minuten mehr als aus um unterhalten zu werden.
Der Film läuft im Programm Block 3: Indigenous Heavy Metal Music In A Horror Fairy-Tale Journey.