Norient Film Festival Bern 2021
Norient hat sich letztes Jahr als digitales Magazin für globale Musikkultur und Untergrundströmungen neu erfunden (hier klicken), mit der zehnten Ausgabe des Film Festival (NFF) bleibt man stets anders. Erneut wird mit vielseitigen Lang- und Kurzfilmen hinter die Kulissen der Welt geblickt. Horizonterweiterung ist das plakative, aber treffende Stichwort, mit den gut zusammengestellten Themenblöcken wird allen Zuschauer*innen ein frischer Blick auf den klingenden Globus ermöglicht.
Aktuelle Fragen in Politik und Gesellschaft, Kommentare zu Unterdrückung und Ungerechtigkeit, Gedanken zu Zeit, Entwicklung und unserem Vermächtnis: Das 10. NFF hält auch für versierte Kenner der Klangkultur viele Überraschungen bereit. So werfen die Filme ein Licht auf dunkle Stellen, so werden Mechanismen und Axiome hinterfragt und aufgebrochen.
Wir haben uns neun ausgewählte Filme des diesjährigen Programms angeschaut und bieten euch vorab einen Überblick zur diesjährigen Ausgabe.
Das komplette Programm findet ihr hier.
Die Filme können vom 27. bis 31. Januar und vom 19. bis 21. Februar gestreamt werden. Sichert euch jetzt die Video-On-Demand-Tickets.
Artwork Plakat: Šejma Fere
Typografie und Layout: Annegreth Schärli, gut&schön
Contradict
Land / Jahr: Schweiz, Ghana / 2020
Regie: Thomas Burkhalter, Peter Guyer
Website: contradict-film.com
Irgendwann ist es genug, immer nur Schweigen funktioniert nicht. Um endlich Dampf abzulassen und die herrschenden Mächte zu kritisieren, wurde schon immer Musik genutzt. Wie ist dies in der heutigen Zeit, zum Beispiel in Ghana? Mit ihrem Film „Contradict“ sind Thomas Burkhalter und Peter Guyer der Frage vor Ort während mehreren Besuchen auf den Grund gegangen und präsentieren junge Künstler*innen und Musiker*innen, die inmitten von religiösem Fanatismus, falschen Idealen und korrupten Regierungen ihrem Unmut Gehör verschaffen.
Wie soll es mit der globalisierten Welt weitergehen, welche Grundsätze und kulturelle Gewichte sind nötig? Mit Liedern und eigens für den Film produzierte Musikvideos wird ein modernes und waches Bild von Ghana gezeichnet, als Gegenpol zum in Europa herrschenden Klischee und der hiesigen Szenen. Die Aussagen und Träume von M3nsa, Adomaa oder Worlasi werden zwar im Film selten zusammengebracht und die Gedanken nicht wirklich verknüpft, das Musikportrait ist trotzdem sehr sehenswert. Und ein aktueller Pfeiler der Arbeit von Norient.
Der Film läuft im Programm Tradition, Religion + Protestation / Block 1: Mali, Kenya, Ghana
Panoptic
Land / Jahr: Libanon, Arabische Emirate / 2017
Regie: Rana Eid
Website: mecfilm.com
Bei „Panoptic“ von Rana Eid geht es in erster Linie nicht um den musikalisch aktiven Untergrund Beiruts. Dieser experimentelle Dokumentarfilm ist ein persönliches Manifest über den Libanon, die herrschenden Mächte und Eids eigene Familiengeschichte. Bilder und Sounds überlagern sich immer wieder, der Alltag wird mit den wahren Situationen vermengt. Die Fassaden erhalten Risse, sei es real bei den leerstehenden Betonmonstern, oder metaphorisch beim verlogenen Abbild der offenen Spasskultur, welches die Regierung der Welt gegenüber vorhält.
Schleppend formt Rana Eid mit elektronischen und analogen Klängen eine Erzählung, beleuchtet Ruinen und Gefängnisse, taucht unter den Boden und sucht im Schatten die Heimat. Das ist eigen und sehr kunstvoll, will und soll wegen der intimen Position aber gar nicht die Massen ansprechen. Vielmehr ist dieser Film die Grundlage vieler Gedankengänge.
Der Film läuft im Programm Sound Cities: Beirut + Baltimore / Block 2: Lebanon, United Kingdom, USA
Journey Though A Body
Land / Jahr: Frankreich / 2019
Regie: Camille Degeye
Website: camilledegeye.com
Camille Degeye begleitet den Schweizer Musiker Thomas in seinem Pariser Alltag. Durchzug in der Wohnung, eingegipster Fuss, spärliches Essen, nächtliche Klangsuchungen im zum Studio umfunktionierten Schlafzimmer. Alles nimmt seinen zähen Lauf, bis eine Dame des Steueramts zu Besuch kommt und die Finanzen überprüfen möchte.
Zwischen Lo-Fi-Doku und kurzem Lustspiel ist der Kurzfilm angesiedelt, der als kleine Komödie über das Leben von freischaffenden und eigenständigen Musiker*innen funktioniert. Dabei will allerdings keine moralische Botschaft übertragen werden, es bleibt beim sanften Spass.
Der Film läuft im Programm Flat Broke, Protest + Celebrate / Block 3: Switzerland, France
Dazzle Lights
Land / Jahr: Argentinien / 2018
Regie: Alejandro Gallo Bermúdez
Website: facebook.com
Im Nordosten von Argentinien, zwischen ländlicher Umgebung, kleinen Ortschaften und ewiger Langeweile ist in der Stadt Curuzú Cuatiá die Band Los Síquicos Litoraleños gegründet worden. Immer wieder mal als Pink Floyd der Armen bezeichnet, haben diese Musiker seit vielen Jahren ein rätselhaftes Konstrukt geschaffen, das sich zwischen Lo-Fi, DIY, Psychedelic Rock und dem traditionellen Chamamé-Folk eingenistet hat. Mit „Dazzle Lights“ hat Filmemacher Alejandro Gallo Bermúdez versucht, das Wesen der Gruppe zu ergründen.
Natürlich durfte dies nicht in gewohnter Form erfolgen, sondern wird mit groben Videoaufnahmen, verrückten Geschichten, Drogentrips und UFO-Sichtungen zu einem bunt flackernden Kaleidoskop. Da die Bandmitglieder nie direkt als Erzähler auftreten, wird das Wirken und ihre Musik durch Freunde, Journalisten und die lokale Bevölkerung geformt. Ein Film, der tief in den klanglichen Untergrund eindringt, unbekannte Landstriche und Bands aufzeigt und beweist, dass die verrücktesten Ideen niemals im Mainstream passieren. Ein Hoch auf die Kreativität.
Der Film läuft im Programm The Argentinas Special / Block 5: Argentina
A Girl’s Band
Land / Jahr: Argentinien / 2018
Regie: Marilina Giménez
Website: kinorebelde.com
In Argentinien wird ein Grossteil der Kulturszene von Männern und männlichem Gedankengut besetzt, noch stärker als teilweise in Europa. Doch glücklicherweise lassen sich die Frauen und Menschen der Queer-Szene davon nicht mehr einschüchtern und haben den Untergrund Klang um Klang erobert. Marilina Giménez führt uns mit „Una banda de chicas“ durch die Szenen und Formationen, von lärmigem Garage Rock über sexuell offenem Cumbia, bis hin zu feministisch erstarkter Popmusik.
Ursprünglich selber in Bands aktiv, kennt Giménez die Leute und Gruppierungen sehr gut und hat es mit ihrem Dokumentarfilm geschafft, ein lebhaftes und buntes Portrait zu zeichnen. Interviews, Live-Auftritte, das tägliche Leben. Nicht, dass mit dieser Aufnahme die Probleme in der Gesellschaft kleiner geworden sind, wohl aber bietet die Produktion einen guten Einblick in den weiblichen Alltag in Buenos Aires und stachelt zum Umdenken und Handeln an. Ein Film, der das Patriarchat mit mitreissender Musik und klugen Gedanken sprengt.
Zum letztjährigen Album „Suck This Tangerine“ von Las Kellies findet ihr bei uns eine Rezension.
Der Film läuft im Programm The Argentinas Special / Block 5: Argentina
Making Waves
Land / Jahr: USA / 2019
Regie: Midge Costin
Website: squarespace.com
In neunzig Minuten die Geschichte des Filmsounds zu erzählen ist keine leichte Aufgabe, deswegen richtet sich „Making Waves“ von Midge Costin vor allem an Leute mit wenig Vorwissen. Bekannte Personen und Beispiele geben sich die Hand, Filme wie „Star Wars“ oder „Apocalypse Now“ stehen im Rampenlicht. Das ist nicht falsch, schliesslich sind Leute wie Walter Murch, Ben Burtt oder Gary Rydstrom wegweisende Künstler, die das Sounddesign auf neue Ebenen gehoben haben. Trotzdem hätte ich mir gewünscht, der Film würde sich nicht so stark auf Hollywood beschränken und vom bekannten Pfad ausscheren.
Wie genau sind denn ikonische Effekte entstanden? Wie wird eine Szene schrittweise mit Dialog, Klängen und Musik gefüllt? Wie unterscheidet sich das Klangdesign auf der Welt? Wie steht es mit der Gleichberechtigung? Fragen, die sich mir stellten, allerdings nur sehr oberflächlich angegangen wurden.
Schlecht ist der Film deswegen nicht und rückt endlich wieder eine Gruppe von Menschen ins Zentrum, die beim Filmkonsum und der Kritik zu oft vergessen gehen. Die Beispiele und Ausschnitte von Klassikern sorgen für ein warmes Gefühl, Archiv-Aufnahmen lassen den Zauber vergangener Jahrzehnte aufleben. Und plötzlich denkt man für sich, wie romantisch und aufregend es weiterhin wäre, in dieser Arbeitswelt tätig zu sein. Mit Christopher Nolan die Lautsprecher explodieren zu lassen, mit Marvel Studios Realitäten zu kreieren, mit Ang Lee die Menschlichkeit im Detail zu finden.
Der Film läuft im Programm From Hollywood to Bollywood to Poland: Sound in Film / Block 6: USA, India, Poland
Other Music
Land / Jahr: USA / 2019
Regie: Puloma Basu, Rob Hatch-Miller
Website: othermusicdocumentary.com
Wenn dich ein Dokumentarfilm über ein Einkaufsgeschäft zu Tränen rührt, dann ist klar, hier geht es um mehr als blossen Konsum. „Other Music“ war während 21 Jahren eine Institution für Musik und Kultur in New York City, ein Plattenladen, der nicht nur Scheiben verkaufen wollte, sondern Menschen zusammenbrachte. Gespräche, Konzerte und Nähe waren wichtige Bestandteile, das Kaufen nur dann gut, wenn es menschlich war. Dazwischen wurden Bands gegründet und Obskuritäten ausgegraben.
Mit dem gleichnamigen Film haben Puloma Basu und Rob Hatch-Miller die letzten Tage des Geschäftes festgehalten und diese Aufnahmen mit Interviews und Aufzeichnungen aus dem Archiv gemischt. Ein schönes, unkritisches und vielseitiges Abbild voller Lebensfreude und gesundem Fanatismus.
Am Ende bleiben die leeren Räume, melancholischen Gefühle und die grosse Frage, wo sich die Subkulturen in Zukunft entwickeln werden. Digital gestreamt von Robotern? In den aussterbenden Megastores? Nein, weiterhin in der analogen Begegnung, direkt und voller Hingabe. Ein Film, der in der heutigen Situation wie ein Mahnmal wirkt. Vergessen wir nicht die Essenz.
Der Film läuft im Programm Pioneers of Other Music / Block 8: USA, Turkey, Kurdistan
Don’t Rush
Land / Jahr: Belgien, Frankreich, Deutschland / 2020
Regie: Elise Florenty, Marcel Türkowsky
Website: michiganfilms.be
Der Titel „Don’t Rush“ ist wörtlich zu nehmen, bei dieser knapp einer Stunde langen Dokumentation passiert wenig und dies schon gar nicht schnell. Griechenland im Sommer, drei Männer treffen sich in der Nacht um ihren Haschischkonsum mit Liedern des Rembetiko-Stils fomrzuvollenden. Eine Musikrichtung, die im 19. Jahrhundert durch Migration entstanden ist und inhaltlich die Drogen, Liebe, Traurigkeit und politische Geschehnisse behandelte.
Mit der abgefilmten Sendung des Piratenradios erfährt man die Hintergründe zum Rembetiko, geniesst gemeinsam mit den Mannen die Lieder und deren Wirkung – und entdeckt Verbindungen und Brücken zu den heutigen Geschehnissen in Europa. Das ist ungewohnt als Film, das verlangt Geduld und Interesse an der Musikgeschichte Griechenlands. Elise Florenty und Marcel Türkowsky werten mit ihren Aufnahmen nicht, zeigen allerdings auf, dass Gegenwart und Vergangenheit stets eng umschlungen sind. Doch, wie kommt man im Kinosaal zu Ouzo und Joint?
Der Film läuft im Programm The Power of Archives / Block 9: Greece, India, Germany
The Albatross Around my Neck
Land / Jahr: Deutschland / 2019
Regie: Markus Schlaffke
Website: schlaffke.com
Irfan Muhammad Khan ist letzter Nachkommen seiner musikalischen Familiendynastie, der die Kunst des Sarod-Spiels weitergetragen hat. Was passiert nun? Kann er die Traditionen und Kompositionen an Personen ausserhalb der Lucknow-Shahjahanpur-Gharana-Sippschaft weitergeben? Kann die Musik für die Zukunft aufbewahrt werden? Markus Schlaffke hat den Musiker auf der Antwortsuche während einigen Jahren begleitet.
Der entstandene Dokufilm legt weniger Wert auf die Ästhetik und begnügt sich mit rudimentärer Schnitt- und Tonpräsentation, sucht seine Gewichtung aber an anderen Orten. In dieser Beobachtung geht es um die Weitergabe von Wissen, um das persönliche Vermächtnis und die damit verbundene Suche nach Ewigkeit. Wie findet man sich in der stetig wandelnden Welt zurecht, welche Werte gelten in den jungen Generationen? Ein ruhiger und etwas trockener Film, der die Frage nach den bleibenden Errungenschaften stellt.
Der Film läuft im Programm The Power of Archives / Block 9: Greece, India, Germany
Text: Michael Bohli