Case à Chocs – Neuchâtel
Samstag, 1. Oktober 2022
Text: Michael Bohli
Wahrer hätte die Aussage von Camilla Sparksss gegen Ende ihres Sets zu später Stunde nicht klingen können. Am Hummus Fest in Neuchâtel hatte jedes Konzert seinen ureigenen Charakter, an diesem Festival gab es keine Wiederholungen oder Redundanzen. Das örtlich ansässige Label zelebrierte eine Nacht lang im Case à Chocs die Schweizer Musikszene und bot Unterschlupf für alle Gestalten. Das Motto «Une maison pour les chelou» flackerte prophetisch über die Videoschirme.
Bevor aber die Musikerin aus dem Tessin mit ihren industrial-technoiden Tracks die Leute zum düsteren Tanz verlockte, gab es auch sanftere Klänge. Gemeinsam zu «Are You OK?» und «So What» vom Album «Brutal» den Abgrund abzutasten machte viel Freude, gleichermassen treffend die Eröffnung des Abends durch Cargo Indigo. Das Trio aus Nyon holte eine maximale Wirkung aus den kleinen Verstärkern und ihren Lo-Fi-Kompositionen heraus, immer im Zentrum der Gesang, der mich an Patricia Kaas erinnerte.
Gegenteilig die Sätze, Schreie und Kommentare von Sun Cousto, das Duo liess den Saal mit ihren wilden, lauten und verrückten Songs durchgerüttelt zurück. Weirdo-Punk, Riot Grrrl-Attitüde und den Spass am falschen Klang: «Satan and I walk under a rainbow» wurde live zum Motto, Panzer Souchon und Ultrabalaste gaben alles, das erste Highlight des Hummus Fest war schnell auserkoren. «I Like Your Style!»
Nur leicht weniger durchgeknallt, dafür musikalisch wie von einem anderen Stern die Energie bei Louis Jucker und seiner Band. Wie gut war denn dieser Auftritt? Ein Genie mit furchtloser Herangehensweise an Lo-Fi-Rock, mit Ansagen im Serienfeuer und ein Set, das «Rock de Stade Classic Style» mit Hardcore und komplexen Jazz-Passagen zusammenbrachte. So fühlt sich eine klangliche Sternstunde an, der Typ aus La Chaux De Fonds und Mitbegründer von Hummus Records pulverisierte seinen Ruf mit fantastischen Songs.
Darauf zu folgen wäre schwierig gewesen, doch Anna Aaron aus Basel kümmerte dies nicht. Sie brachte alleinig mit einem grossen Waldorf-Synthesizer und weiteren Gerätschaften ihre Lieder in elektronisch veränderter Form auf die Bühne. Das grosse Werk «Pallas Dreams» wurde besucht («Why Not» und «Moskito» haben nichts von ihrem Reiz verloren), die kommende Platte «Gummy» angespielt. Ein eindringlicher Auftritt, der ihre Position im hiesigen Musikschaffen erneut festigte.
Viel Worte zu Emilie Zoé muss man nicht verlieren, die Frau hat sich innert kurzer Zeit von einer eigenbrötlerischen Songwriterin zum neuen Lo-Fi-Stern am hiesigen Himmel entwickelt. Nach dem Auftritt in Montreux war auch ihr Gig an diesem Festival ein wuchtig lautes Vergnügen, ein emotional packendes Ereignis. Als gegen Ende von «Volcan» der Saal in rotes Licht getaucht wurde und die Worte «burned our bodies down» von Emilie Zoé in die Menge geschrien wurde, stand nicht nur Camilla Sparksss mit offenem Mund da.
Auch ohne Musik gab es an diesem Abend viel zu entdecken, etwa die Projektion «Over the Horizon» von Laurent Güdel im Kellerraum, die vor Ort siebgedruckten T-Shirts oder der massive Vinyl-Stand von Hummus Records. Und ob die Käsescheiben von La Punklette gegen die Gitarrenspielerein von Closet Disco Queen & the Flying Raclettes ankamen, wurde je nach Getränkepegel anders beurteilt. Die letzten Wahrnehmungen wurden sowieso im Klanggewitter von Crème Solaire vernichtet, was diesen grossartigen Abend nur noch die Krone aufsetzte.
Die kommenden Termine, nicht zu verpassen!
Samstag, 15. Oktober 2022 – Rote Fabrik, Zürich
Samstag, 26. November 2022 – Usine à Gaz, Nyon