Human Rights Film Festival 2021
Kosmos – Zürich
Freitag, 3. Dezember 2021
Text: Cornelia Hüsser und Michael Bohli
Wie war das nochmals mit den Rechten, Pflichten und Freiheiten? In den letzten Monaten ist einem Teil der Schweizer Bevölkerung die Klarheit abhandengekommen, es wurde mit viel Pathos auf Schlagworten herumgehauen, die dreckige und hässliche Seite des Wohlstandstaates kam zum Vorschein. Mit Filmen kann man solche Verhaltensweisen zwar nicht aus der Welt schaffen (leider), wohl aber die Sensibilität stärken. Gut also, findet auch 2021 wieder eine Ausgabe des Human Rights Film Festival in Zürich statt.
Im Kulturhaus Kosmos lokalisiert, ist in diesem Winter erneut die Welt zu Gast und darf unseren Horizont erweitern. Spiel- und Dokumentarfilme über herrschende Brennpunkte, über Ungerechtigkeiten und menschliche Schicksale. Begleitet von Gesprächen, Vorträgen und Darbietungen, sechs Tage intelligente Unterhaltung und direkte Konfrontation, ohne zu moralisieren. Wir waren am Freitag im Kino und präsentieren zusätzlich einen Ausblick auf zwei kommende Vorstellungen.
Les Enfants Terribles
Land / Jahr: Frankreich, Deutschland, Türkei / 2021
Regie: Ahmet Necdet Çupur
Musik: John Gürtler, Jan Miserre
Website: lesenfantsterriblesfilm.com
Les enfants terribles, das sind Regisseur Ahmed Necdet Cupur und seine Geschwister. Für seinen Dokumentarfilm besuchte er seine Familie, die in einer ländlichen Gegend der südlichen Türkei lebt; im Mittelpunkt stehen seine Schwester Zeynep und sein Bruder Mahmut. Beide möchten – wie Ahmed – dem Leben, das die Eltern für sie vorgesehen haben, entfliehen. Zeynep möchte in der Stadt studieren, unabhängig leben und sich keinem Mann unterordnen. Mahmut hingegen wurde bereits in eine von den Eltern arrangierte Ehe gedrängt. Doch er liebt Nezahat nicht und möchte die Scheidung; es belastet ihn jedoch, dass er damit ihren Ruf und möglicherweise ihre Zukunft ruiniert.
Die Eltern zeigen derweil keinerlei Verständnis für den Selbstbestimmungsdrang der Kinder. Sie wünschen sich die Einhaltung der traditionellen, konservativen Werte, wie sie immer schon galten und können nicht verstehen, was daran plötzlich falsch sein soll. Ihr Umgangston ist dabei nicht nur rau, sondern – in unserem Verständnis – regelrecht bösartig, wenn sie sich einmal mehr wünschen, ihre Kinder wären besser nicht mehr am Leben.
Ahmed Necdet Cupur gelingt es hervorragend, diesen zermürbenden Befreiungskampf seiner Geschwister einzufangen. Es sind die ewig gleichen Diskussionen, ein stetiger Wechsel von Attacke und Rückzug und Beharrlichkeit, die schliesslich zum Ziel führen: Das Recht erhalten, den eigenen Weg einzuschlagen.
Der Film wird noch einmal am Sonntag, 5. Dezember 2021, um 13:00 Uhr gezeigt.
Brother’s Keeper
Land / Jahr: Türkei, Rumänien / 2021
Regie: Ferit Karahan
Website: imdb.com
Es ist eine Kunst, grosse Probleme in kleinem Massstab darzustellen und auf die Art des Kammerspiels zu reduzieren. Ferit Karahan hat mit dem Spielfilm Brother’s Keeper den Kunstgriff geschafft und seine persönlichen Erfahrungen als Schüler mit den Geschehnissen einer gesamten Nation verknüpft. In der Region Anatoliens werden heute noch kurdisch stämmige Knaben zu «echten türkischen Bürger» erzogen. Stellvertretend für diese Methode stehen im Film Yusuf und sein Freund Memo, welche im kalten Winter durch diverse Umstände einen Tag voller Schicksalswendungen erleben.
Mit Laiendarstellern inszeniert und sanften Momenten garniert, ist Brother’s Keeper ein Film, der im tragischen Thema der Unterdrückung sehr wohl humane und gar humoristische Momente findet. Die Schuld ist keiner Figur abzusprechen, das System hingegen agiert unfair. Karahan symbolisiert diese Standpunkte mit den schönen Aufnahmen, dem dichten Drehbuch und den Verhaltensweisen der Charaktere. Das Drama muss nie die Umgebung der Schule verlassen, um die falsche Politik zu entlarven.
Der Film wird noch einmal am Samstag, 4. Dezember 2021, um 13:00 Uhr gezeigt.
Der Ast, auf dem ich sitze
Land / Jahr: Schweiz, Deutschland / 2020
Regie: Luzia Schmid
Website: dvfilm.ch
In Zug, da lässt es sich gut Leben und reichlich Steuern sparen. Vorausgesetzt, man gehört zur wohlhabenden Schicht. Denn die ewigen Umbauten am Finanzsystem haben aus dem Ort eine Steueroase gemacht, für Mensch und Gesamtheit aber wenig Verbesserung eingebracht. Wie zufrieden sind denn die Leute, welche sich inmitten dieser Verhältnisse befinden? Luzia Schmid geht mit Der Ast, auf dem ich sitze den Fragen und Umständen nach.
Keinesfalls bezieht die Regisseurin in ihrer Dokumentation eine links-soziale Position, dafür ist ihre persönliche Einstellung zu liberal (siehe Filmtitel). Das verhindert aber weder einen klaren Blick auf Situation und Probleme noch beissende Fragen für ihre Interviewpartner:innen. Sei es die eigene Familie, wichtige Namen in der Lokalpolitik oder Menschen, die sich im Ausland gegen die Auswirkungen der Schweizer Politik zur Wehr setzen. Es schmerzt auf jeden Fall, diese Bilder nach Nein für die Konzernverantwortungsinitiative anzusehen, denn erneut wird einem bewusst gemacht, wie viel Leid und Ungleichheit wir mit unserer kapitalistischen Wirtschaft verursachen. Ein Umdenken muss her, schnell.
Der Film wird am Sonntag, 5. Dezember 2021 um 20:30 Uhr gezeigt.
Réveil sur Mars
Land / Jahr: Schweiz, Frankreich / 2019
Regie: Dea Gjinovci
Website: alvafilm.ch
Schweden liegt nicht so weit vom Kosovo entfernt, wie die Erde vom Mars. Trotzdem kann einem die nördliche Umgebung fremd und unwirtlich vorkommen, besonders, wenn man als Familie darauf hofft, endlich ein neues Leben beginnen zu dürfen. Doch für Furkan und seine Verwandten steht der Aufenthaltsbescheid der Behörden immer noch aus. Und seine Schwestern sind seit Jahren nicht aus dem merkwürdigen Koma erwacht.
In den ersten Minuten von Réveil sur Mars wollte ich zuerst nicht wahrhaben, dass dieses medizinische Rätsel der plötzlichen und totalen Apathie wirklich existiert. Zu absurd erscheint die Tatsache, dass dieses Koma bei Flüchtlingskindern in grossen Stresssituationen auftaucht. Wie Furkan im Film von Dea Gjinovci, würde man in solchen Situationen gerne eine Rakete bauen und in die sichere Ferne des Mars abzischen. Was in der Fantasie des Jungen gut funktioniert, das ist in der Realität von Flucht und Migration ein täglicher Kampf voller Hoffnungen und Sorgen. Die Dokumentation bringt die beiden Ebenen feinfühlig zusammen und zeigt durch die kindliche Perspektive die Absurdität der Flüchtlingspolitik auf.
Der Film wird am Dienstag, 7. Dezember 2021 um 20:30 Uhr gezeigt.