9. – 11. Mai 2019
The Great Escape – Brighton (Südengland)
Website: greatescapefestival.com
Brighton ist mein persönliches Schlaraffenland. Charmant abgehalfterte Bars locken neben hübschen Pubs, an jeder Ecke schrummt live Gitarrenmusik und sogar der riesenhafte Türsteher sagt „thank you, darling“. Wie wenn das nicht schon genug wäre, präsentiert das Festival The Great Escape neue Musik, dieses Jahr über 500 mehr oder weniger unbekannte Bands. Gespielt wird nicht nur in den zahlreichen ständigen Konzert-Locations, sondern auch in Kirchen, einem Ballsaal, in verschiedenen Theatern, Pubs und – dort ist es am allerschönsten – am Strand, in zwei Zelten und einem seitlich aufgeklappten Bus unter freiem Himmel. Bei diesem Setup braucht es Disziplin, nicht dauernd vor Glück zu explodieren oder in Panik auszubrechen, man könnte eine tolle Band verpassen. Hier meine Entdeckungen aus 28 besuchten Konzerten (und 210 verpassten – ich hatte tatsächlich 238 Favoriten in der Festival-App gespeichert).
Natürlich fand eines meiner Lieblingskonzerte draussen am Strand statt. Ausgerechnet in die wunderschöne Stimme einer Opernsängerin mit 17 Jahren Berufserfahrung hätte ich mich am liebsten reingesetzt und gewälzt: Kim Logan. Keine nervigen Vibratos, sondern verruchten Rock’n’Roll und Country Sound goss die als sexy Matrosin gestylte Amerikanerin in den sonnigen Mittag und liess die grossen Becher Offshore-Lager noch besser schmecken. Nur einen Song vom eher braven Album von 2013 gab Kim Logan zum Besten, „Black Magic Boy“. Der Rest, wie der Knaller „Ladyboy“ oder der grossartige, noch unveröffentlichte Song „Death Dream“, erscheinen vermutlich auf ihrem zweiten Album Ende 2019.
Viel Freude bereitete auch die blutjunge Truppe Rainbow Maniac aus Wales, UK. Im dunklen Keller der Latest Music Bar fütterten sie früh am ersten Festivaltag die noch kleine, aber hungrige Meute mit tollen Songs voller mitreissender Gitarrenriffs und grossartigem Gesang. Wenn sie sich die Reise leisten könnten, würden sie gerne in der Schweiz auftreten, sagte Sänger Connor Latcham nach dem Konzert und schenkte mir die Setlist. Wir Schweizer würden sie jedenfalls lieben. Besonders die neueste Single „Snowball“ zeigt das grosse Potential der Band. Der Schlagzeuger outete sich als Multitalent und schwang sich bei den nachfolgenden Buzzard Buzzard Buzzard nonchalant als Sänger die Gitarre um den Hals. Ja, so sind sie, diese talentierten jungen Menschen.
Gesanglich etwas weniger bestechend, dafür umso spassiger war die Punkband Surfbort aus Brooklyn, New York. Sängerin Dani Miller hüpfte in ihrem unsäglichen Coca-Cola-Nachthemd so hoch, dass man ihre rote Unterhose und die beeindruckend dichte Beinbehaarung nicht übersehen konnte, leckte neckisch über ihre Zahnlücken, um sogleich wieder betont unschuldig mit dem Wimpern zu klimpern. Nach dem ersten Schock war die Menge auf dem überdachten Jubilee Square nicht mehr zu halten und tanzte zu Stücken wie „Hippie Vomit Inhaler“ mit, der das wohl nicht in jedem Lebenslauf auftauchende Phänomen beschreibt, nach dem Aufwachen festzustellen, dass der ganze Haushalt verschwunden ist.
Ein ganzes Rudel Fotografen drohte PROJECTOR im Saal des Hope and Ruin zu verschlingen, in den wohl noch nie ein Sonnenstrahl gedrungen ist. Vielleicht ein Zeichen für den bevorstehenden Erfolg der englischen Band, die es auf Spotify gerade mal auf gut 1600 monatliche Hörer bringt. Besonders die zierliche Schlagzeugerin überzeugte mit einer beachtlichen Leistung und liess Gesang und Gitarren ihrer zwei Mitstreiter strahlen.
Erwähnenswert ist auch Pagan aus Melbourne, eine der wenigen Metalbands mit einer Sängerin. Frontfrau Nikki liess keinen Zweifel an der Geschmeidigkeit ihres schönen Körpers, liess auf allen Vieren Becken und Kopf anmutig kreisen, schluckte den Inhalt der Proseccoflasche nur halb, und liess den Rest über die vollen Lippen rinnen. Sie fühle sich wegen des Spiegeldachs des Strand-Konzertbusses wie in einem „weird porno“. Daran hatte das Publikum auch ohne Spiegel gedacht und dabei fast die solide musikalische Darbietung der Band überhört. Darum gibt es dazu kein Foto.
Ebenfalls dem Metal verschrieben haben sich Black Peaks aus Brighton. Der Frontmann beeindruckte das Publikum im stossend vollen, riesigen Saal des Old Market mit der unheimlichen Bandbreite seiner Stimme, beherrschte sämtliche Abstufungen zwischen veritablem Geschrei und melodiösen, vollen Klängen perfekt. Eine Hymne jagte die andere, wie „Fate I“, mit an Muse erinnernden Passagen.
Dass die australischen Psychedelic Porn Crumpets phantastisch sind, war kein Geheimnis mehr. Statt kilometerlang anzustehen, bevorzugte ich es, zu warten, bis diese Wahnsinns-Band endlich in die kleine Schweiz kommt. Zu Erfolg könnte es auch der Landsmann Emerson Snowe bringen – wenn er bis dann nicht verhungert ist. Gerade einmal 23 Jahre alt, dick geschminkt und mit einer herrlichen Stimme gesegnet, erzählt der Jüngling, dass er von einem Freund ein Pfund Fünfzig ausleihen musste, um sich einen Tee zu kaufen.
Die letzten Stunden des Festivals im Horatios, dem Pub weit aussen auf Brighton Palace Pier, bestritten unter anderem EUT. Die Amsterdamer erfrischten die schon leicht angeschlagene Croud mit süssem Indie-Pop und waren selber keine Spur müde. Sängerin Megan de Klerk legte sich rührend ins Zeug, damit alle Bandmitglieder meine Single unterzeichneten. Was denn der Bandname bedeutet? „It’s a secret. Think of something very nasty, even sexual“, gab Bassist und Keyboarder Sergio Escoda zur Antwort. Sofort kombiniert mein schlagseitiges Gehirn: Exhibitonistische Urologie Titten?
Den Abschluss des sausenden Festes machten MUSH aus Leeds. Die humorvollen, schrägen Gitarrenläufe erinnerten ein bisschen an Pavement und brachten auch den letzten zu Schaden getanzten Knochen noch ein letztes Mal zum Wippen.
Wie recht doch ein lieber Freund hatte, als er mich wegen meinen unterirdischen musikalischen Fähigkeiten tröstete: Es gibt so viele gute Musiker, da braucht es auch jene, die gut zuhören können.
Bands: Kim Logan / Rainbow Maniac / Buzzard Buzzard Buzzard / Surfbort / PROJECTOR / Pagan / Black Peaks / Psychedelic Porn Crumpets / Emerson Snowe / EUT / MUSH
Text: Nicole Müller