Bildrausch Filmfest 2021
Ort: Diverse Kinos – Basel
Website: bildrausch-basel.ch
Meist war es während der zehnten Ausgabe des Bildrausch Filmfest in Basel heiss – ausser, man begab sich für frische Gedanken und aufregende Bilder in die Kinosäle. Dort wurde nicht nur der Geist gefordert, es ergaben sich diverse Möglichkeiten der direkten Diskussion. Viele Vorführungen passierten unter Anwesenheit von Regisseuren oder Mitwirkenden, Fragerunden nach den Projektionen waren üblich. Dies ermöglichte nicht nur die persönliche Einbringung, sondern ein tieferes Verständnis der Filme.
Allgemein ist das Bildrausch kein distanziertes und elitär wirkendes Festival, viel lieber begegnet man sich auf Augenhöhe. Zum Gespräch, zum Quiz, zu einem Getränk oder zur Bewunderung einer Ausstellung. Und wenn es dann hiess, dass die gesamte Stadt ein Kino sein kann, wurde die Bevölkerung von Basel an diversen Standorten unter freiem Himmel mit der Magie des Films gelockt. So feiert man ein Jubiläum, inklusiv und bunt.
Dies ist der zweite Teil unserer Berichterstattung, Teil 1 findet ihr hier.
Blutsauger
Land / Jahr: Deutschland / 2021
Regie: Julian Radlmaier
Website: arrimedia.de
Wie war dies bei Karl Marx: Der Kapitalist ist ein Blutsauger und lässt das Proletariat ausgelaugt zurück. Also ein Vampir? Julian Radlmaier nimmt diese etwas krude Metapher und schlägt sie mit dem Holzpfahl in den Film. Blutsauger ist ein kurios-anachronistisches Werk, das die Gesellschaftskritik mit viel Humor und Absurditäten untersucht. Eigentlich im Jahre 1928 spielend, werden ohne Rücksicht auf Verluste Objekte, Aussagen und Wirkungen durcheinandergewirbelt.
Systemkritik mit vielen Lachern, das gibt es selten zu sehen, zu oft werden politische Absichten im Kino mit unantastbarem Ernst gezeigt. Nicht so bei Blutsauger, der Film gibt sich elitär und gestelzt, zwinkert dabei aber konstant mit dem Auge. Die Geschichte um den falschen Baron und die Jungkapitalistin Octavia ist Theater, Satire und Historienfilm zugleich, das Geschehen an der Nordsee bietet nicht nur einen frischen Zugang zu „Das Kapital“, sondern spassig-gestellte Zeiten mit kritischem Unterton. Verrückt und sehenswert, in der Mischung sogar an Werke wie „Cosmos“ von Andrzej Żuławski erinnernd.
Archipel
Land / Jahr: Kanada / 2021
Regie: Félix Dufour-Laperrière
Website: ladistributrice.ca
Wenn wir uns über Landkarten beugen, um damit fremde Gebiete zu erkunden, transportieren wir abstrakte Gedanken in wirkliche Umgebungen. Doch wie verhält es sich denn in Wahrheit mit Gegenden und Gebieten? Lassen sich durch Sprache, Gefühle und Empfindungen Grenzen ziehen, Zugehörigkeiten finden? Archipel von Félix Dufour-Laperrière geht als wundervoll gemachter Animationsfilm diesen Fragen nach und findet immer wieder eine poetisch-tiefe Schönheit.
Der Film kann inhaltlich etwas sperrig wirken, schlussendlich erschliessen sich viele Aspekte, Namen und Geschehnisse nur, wenn man sich über das Gebiet von Quebec in Kanada auskennt, die Art des Filmes lässt die Überlegungen aber universal erscheinen. Nicht nur gleitet man via Sankt-Lorenz-Strom zum Hochelaga-Archipel und begegnet wichtigen Stationen der französischsprachigen Landesgeschichte, die improvisierte Art der Animation, kombiniert mit Archiv-Aufnahmen und kartografischen Zeichnungen sind überlagernd und erweiternd. Zauber, Natur, Emotionen – dazu gesellen sich die herrlichen Sounds, das Herz wird berührt und davongetragen. Selten gab es im Kino ein Essay in solch berauschender Animationsform zu sehen, als würde man einer Lyrikvorlesung lauschen.
Transatlatique
Land / Jahr: Kanada / 2014
Regie: Félix Dufour-Laperrière
Website: ladistributrice.ca
Félix Dufour-Laperrière kennt man vor allem durch seine Arbeiten im Bereich des Animationsfilmes, wie etwa mit seinem neusten Essay „Archipel“. 2014 begab er sich auf ein Frachtschiff, um mit Kamera und Mikrofone die Atlantiküberquerung als Transatlatique festzuhalten. Das Resultat ist nicht nur ein schwarzweiss gehaltener Film voller meditativer Momente, sondern ein Manifest für die künstlerische Sicht des Kanadiers. Immer wieder zeigen sich die Techniken der Animation in Schnitt und Überlagerungen, die starken Kontraste und strikten Bildkompositionen lassen an Zeichnungen denken.
Viel Dunkelheit, grosses Brummen: Transatlatique bringt das Chairoscuro mit einem fantastischen Soundtrack zusammen, welche filmische Szenen in Comicpanels verwandeln und den repetitiven Alltag auf dem Schiff ungewohnt einfangen. Dadurch werden nicht nur falsche Vorstellungen und Sehnsüchte mit der harten Realität konfrontiert, zu schnell vergessene Jobs und menschliche Situationen in der Warenkette werden fassbar. Zwar ist die Produktion stärker an einer ästhetischen Gewichtung als an Kritik interessiert, überzeugend ist es trotzdem.
Memory Box
Land / Jahr: Frankreich, Libanon / 2021
Regie: Joana Hadjithomas, Khalil Joreige
Website: playtime.group
Joana Hadjithomas und Khalil Joreige kommen eigentlich aus dem literarischen Bereich, haben sich in den letzten Jahren aber nicht nur als Künstler*innen-Paar, sondern auch als Filmemacher*innen einen Namen gemacht. Mit dem neusten Spielfilm Memory Box werden die unterschiedlichen Disziplinen ihres Wirkens auf gewissen Ebenen zusammengeführt, zu einer menschlichen Erzählung über Liebe und Hoffnung. Zu gleichen Teilen im heutigen Montreal und im libanesischen Bürgerkrieg der Achtzigerjahre angesiedelt, ist das Fiktionale sehr wohl persönlich.
Teenager Alex beginnt die Vergangenheit ihrer Mutter Maia zu erforschen und stösst mit Hilfe von Fotografien, Kassetten und tagebuchartigen Briefen auf viele Geheimnisse und brutale Wahrheiten. Memory Box zeigt diese Schichten in technisch verspielter und genialer Weise. Fotografien erwachen zum Leben, Super-8-Aufnahmen schleichen sich in die Gegenwart, der Libanon erblüht von neuem. Das interdisziplinäre Schaffen von Hadjithomas und Joreige fesselt in diesen Sequenzen, der Film wird zu einem Kollektivgedächtnis voller Wärme und Menschlichkeit, zur globalen Methode der Annäherung.
Schade bloss, wissen wir Menschen diese Fähigkeiten in der Wirklichkeit selten zu nutzen und verlassen uns lieber auf Konflikte, Hass und Neid. Der Film hält in der zweiten Hälfte mit einer durchdringlichen Emotionalität entgegen und zeigt mit dem berührenden Ende, dass auch in Kriegsumgebungen Erlösung und Fröhlichkeit gefunden werden können. Hoffen wir auf eine glückliche Zukunft, gemeinsam.
Text: Michael Bohli