Bildrausch Filmfest 2021
Ort: Diverse Kinos – Basel
Website: bildrausch-basel.ch
Obwohl die Welt im letzten Sommer angehalten wurde, muss man deswegen ein grosses Jubiläum nicht auslassen. Das Bildrausch Filmfest in Basel hat seine zehnte Ausgabe ins 2021 verschoben und durfte wieder mit geöffneten Kinosälen und einem vielseitigen Programm aufwarten. Natürlich dienten die Festivaltage nicht einer Rückschau, sondern der erweiterten Vision der Veranstaltung. Als duale Ausgabe ausgerichtet, mit den Auflagen unterliegenden Kinovorführungen und einer grossen Streaming-Auswahl, konnten viele Gebiete erschlossen werden.
Als eigenes Geschenk erstellte man dieses Jahr auf dem Theaterplatz ein grosses Zelt für Gespräche, Treffen und Veranstaltungen, sowie diverse Aktivitäten. Gar keine so schlechte Idee, ist eine Atempause nach gewissen Vorführungen willkommen. Denn gemäss dem Namen, ist die Wettbewerbsreihe „Cutting Edge“ nicht immer einfach zu verdauen. Beim Bildrausch geht es darum, die Gewohnheiten abzustreifen, das Autorenkino neu zu entdecken, sich auf eine intellektuelle Weltreise zu begeben.
Daneben bot die zehnte Ausgabe unter „Kaleidoskop“ viele weitere, aufregende Produktionen (die unendliche Vielfalt des Kinos), sowie die Werkreihen zu Joana Hadjithomas und Khalil Joreige (Libanon), dem Kanadier Félix Dufour-Laperrière und zum Schaffen von Ludwig Wüst aus Österreich. Langeweile? Existierte in Basel zu keiner Sekunde, hier spürte man die liebe zum globalen Kino in jeder Sekunde, in jeder Entscheidung. Auf weitere zehn Jahre und noch viele mehr.
Miss Marx
Land / Jahr: Italien, Belgien / 2020
Regie: Susanna Nicchiarelli
Website: celluloid-dreams.com
Es macht sehr viel Laune, wenn Eleanor Marx mit Punk-Klängen des Vorspanns vorgestellt wird. Der anachronistische Einstieg in Miss Marx macht sofort klar, dass diese biografisch-filmische Nacherzählung vom Leben der bekannten Frau sehr viele Anknüpfpunkte an die heutige Welt sucht. Es geht nicht nur darum aufzuzeigen, dass sich die Tochter von Karl Marx ihr gesamtes Leben lang für bessere und menschlichere Bedingungen der Arbeiterklasse einsetzte, sondern, dass es solch mutige Menschen weiterhin braucht und die Kämpfe noch lange nicht gewonnen sind.
Die Punk-Songs von Downtown Boys werden im Film von Susanna Nicchiarelli immer wieder eingestreut, begleitet von einem erfrischend klingenden Score, Fotografien vergangener Jahrzehnte mischen sich unter die hübsch gefilmten Aufnahmen. Der biografische Film versucht die Essenz des Herzens und Kopfs von Eleanor zu erfassen, die Widrigkeiten der Gesellschaft aufzuzeigen. Das gelingt nicht schlecht, allerdings wird einiges vereinfacht und scheint Marx nicht gerecht zu werden. Dank dem famosen Spiel von Romola Garai und der gelungenen Ausstattung ist Miss Marx aber niemals anödend, sondern regt zu Diskussionen an. Und ja, die Tanzszene gegen Ende des Filmes wirkt wie Dynamit.
Feast
Land / Jahr: Niederlande / 2021
Regie: Tim Leyendekker
Website: squareeyesfilm.com
Wir Menschen denken gerne in den Kategorien von Gut und Böse, doch gibt es diese klare Unterscheidung wirklich? Basiert nicht jede Handlung auf einem Strudel von Gedanken, aus Emotionen und situativen Entscheidungen? Tim Leyendekker regt solche Auseinandersetzungen mit seinem komplexen Film Feast an. Ausgehend von der realen Begebenheit, dass 2007 diverse Teilnehmer von schwulen Sexpartys unter Drogen gesetzt und mit HIV infiziert wurden, entsteht ein abstraktes und lange nachhallendes Konstrukt.
Wie ein Dokumentarfilm anmutend, sind die sieben Szenen von Leyendekkers Langfilmdebüt an Platons „Symposion“ angelehnt und stellen universelle Fragen nach Liebe, Zugehörigkeit und Vergehen. Reduziert in der Erzählung und mit kontroversen Meinungen ausgestattet, stösst der Film vor den Kopf und fordert mit Formatwechsel und langen Aufnahmen heraus. Das ist weder ein Vergnügen noch simpel, regt dafür an, über eigene Handlungen und vor allem vorschnelle Meinungsbildungen nachzudenken. Moral, Tod und Leben sind keinesfalls solch einfache Schlagwörter, wie wir dies vermuten.
This Is Not a Burial, It’s a Resurrection
Land / Jahr: Südafrika, USA, Lesotho / 2019
Regie: Lemohang Jeremiah Mosese
Website: trigon-film.org
Das Rad der Zeit dreht sich gnadenlos, Fortschritt und Wandel scheinen Heilsbringer der Menschheit. Doch ist Entwicklung schlussendlich nicht nur die destruktive Unterwerfung der Natur? So zumindest wird es in This Is Not a Burial, It’s a Resurrection einmal ausgesprochen, nebst dem sich der Spielfilm von Lemohang Jeremiah Mosese als ruhige Betrachtung komplexer Situationen immer wieder mit Vergänglichkeit und Tod beschäftigt. In Lesotho sind Veränderung und Zerstörung an der Tagesordnung, werden immer wieder Dörfer geräumt, um weite Landstriche für Stauseen zu fluten. So geht es auch der Hauptperson im Film, nach dem Verlust ihres Mannes und ihrer Kinder scheint sie die Vergangenheit und ihre Heimat abgeben zu müssen.
An das sowjetische Kino erinnernd, mit langen Einstellungen und einem langsamen Voranschreiten, ist der Film von Mosese ein beeindruckendes Werk über tote Gesellschaften und menschliche Gier. Komplex erzählt und voller Metaphern, wirken die Aufnahmen wie Kirchengemälde und wurden durch die Arbeiten von Käthe Kollwitz inspiriert. Ein Film, der Zeit benötigt, über den man nachdenken muss und trotz aller Trauer und Schwere immer wieder Momente der berührenden Schönheit findet. Während es für den Regisseur die Rückkehr in seine Heimat bedeutete, ist es für uns alle ein Einblick in ein anderes Leben, in eine erdverbundene Lebensweise mit viel Seele.
Careless Crime
Land / Jahr: Iran / 2020
Regie: Shahram Mokri
Website: trigon-film.org
Ein Film muss nicht linear erzählt werden, um die enthaltene Geschichte näherzubringen. Was allerdings der iranische Regisseur Shahram Mokri mit seinen Werken abliefert, ist allen anderen weit voraus. Nach dem Experiment „Fish & Cat“ hat er die elliptische Erzählweise, die in sich verschlungenen Szenen und Abläufe zeigen für Carless Crime ein Stück weitergetrieben. Der Film erzählt nicht nur vom in Iran passierten Kinobrand während der Revolution Ende der Siebzigerjahre, er übernimmt Motive und Details des damalig gezeigten Films „The Deer“ und verlagert Aspekte des Attentats in neue Zeit- und Realitätsebenen. Fragen zur Geschichtsschreibung, zum Schicksal und eventueller Möglichkeit, den Ablauf der Zeit zu ändern werden gestellt und stellenweise auch humorvoll betrachtet.
Careless Crime ist ein Film mit viel Ballast – nicht nur wegen der politischen Inhalte und deren Vergangenheit, sondern wegen der verwobenen Aufnahmen. Selten linear und teilweise repetitiv, stellen gewisse Szenen filmische Möbius-Schlaufen dar und sind ohne nötige Vorkenntnisse schwierig zu entwinden. In der gebotenen Komplexität bietet Mokri allerdings einen nachhaltigen Dialog und technisch perfekt umgesetzte Bilder, von denen man sich mehr als gerne verzaubern und herausfordern lässt.
A Metamorfose dos Pássaros
Land / Jahr: Portugal / 2020
Regie: Catarina Vasconcelos
Website: portugalfilm.org
Von der eigenen Familie zu erzählen ist kein einfaches Unterfangen, Grenzen und Intimitäten müssen respektiert und beachtet werden. Mit ihrem Langfilmdebüt geht Catarina Vasconcelos andere Wege und verbindet Erinnerungen und Artefakte mit poetisch-künstlerischen Szenerien. A Metamorfose dos Pássaros ist kein Dokumentarfilm, sondern eine Verbindung von Kunst, Malerei, Lyrik und Fiktion. Zwar orientiert sich der Film an wahren Begebenheiten, füllt den Raum aber mit Stillleben, natürlicher Schönheit und gespiegelten Bilder auf. Die Begegnung mit dem Tod wird zu einer neuen Möglichkeit, fliegend und singend, vergangene Beziehungen wachsen wieder weiter.
Der Film löst sich wegen dieser Mischung stark von der wirklichen Anbindung an das Leben, Handlungen und Aufnahmen wirken märchenhaft, abstrakt und – natürlich – konstruiert. Schauspielerei und Realität lässt Vasconcelos einander gegenüberstehen und lässt Träume wachsen. Ein Film, der weniger verstanden, sondern erfühlt werden möchte. Je nach Situation und Verfassung beim Betrachten tritt dieser als Schatzkiste voller Liebe, oder als hochstilisierte Konstruktion auf.
The World To Come
Land / Jahr: USA / 2021
Regie: Mona Fastvold
Website: parkcircus.com
Abigail und ihr Mann Dyer versuchen das Leben in der amerikanischen Provinz als Bauern zu bestreiten, doch einfach ist dies im 19. Jahrhundert keinesfalls. Natur und Wetter sind zu überstehen, zwischenmenschliche Konflikte, der Tod der eigenen Tochter, die immer schwerer lastende Einsamkeit. Als Tallie und Finney in der Nähe eine Farm beziehen, scheint sich das Leben zu bessern, denn zwischen den Frauen entsteht eine tiefe Verbundenheit und starke Zuneigung.
Fast könnte man witzeln und den Film von Mona Fastvold in den Topf der gleichgeschlechtlichen Liebesdramas vergangener Epochen tun („Ammonite“, „Portrait de la jeune fille en feu“ und dergleichen), doch die Geschichte um Emanzipation, patriarchalische Unterdrückung und zerplatzter Träume ist universal. The World To Come erzählt das zarte Näherkommen in schönen Aufnahmen, begleitet von packender Filmmusik aus der Feder von Daniel Blumberg. Dank der grossartigen Besetzung mit Katherine Waterston und Vanessa Kirby in den Hauptrollen, wirkt die entstehende Liebe echt und der Film lässt mit der Zeit einen immer stärkeren Sog entstehen.
Schade nur, verlässt sich das Drehbuch konstant auf die Off-Stimme, welche Abigails Tagebucheinträge vorliest und somit viele subtile Momente grob wegwischt. Da hätte ich mir mehr Zurückhaltung und Vertrauen in Spiel und Bildern gewünscht. Herz hat der Film von Fastvold nämlich mehr als genug und wirkt emotional nach.
Les sorcières de l’orient
Land / Jahr: Frankreich / 2021
Regie: Julien Faraut
Website: lightdox.com
In den Neunzigerjahren gab es keine Woche, die ohne eine Ausstrahlung von „Mila Superstar“ (im Original „アタックNo.1, Atakku No. 1“) passierte. Nicht nur begann das Anime-Fieber zu greifen, diese Serie war einfach bei allen beliebt – doch was steckt eigentlich dahinter? Der Dokumentarfilm Les sorcières de l’orient rollt die Ereignisse um die Damenvolleyballmannschaft des Konzerns Nichibo neu auf und lässt nicht nur Spielerinnen zu Wort kommen, sondern verbindet Archivaufnahmen der Sechzigerjahre mit Anime und neuen Bildern.
Regisseur Julien Faraut geht es nicht bloss darum, die damaligen Erfolge noch einmal nachzuerzählen und die Weltmeisterschaft und Olympiade zu feiern, sondern zu untersuchen, wie solche Triumphe möglich waren. Das gelingt dem Film in sehr gelungen montierten Sequenzen, deren Aufnahmen mit treibender Musik von K-Raw, Jason Lytle und Portishead kontrastiert werden. Technischer Fortschritt und körperliche Aufopferung werden zu einem Wahn, die damaligen Tätigkeiten hinterfragt. Das ist emotional klar gewichtet und könnte kritischer sein, lässt aber Fragen zum Land Japan und der Leistungsgesellschaft zu. So oder so, am Ende fiebert man mit den Frauen mit und freut sich über jeden gemachten Punkt.
Text: Michael Bohli