Salzhaus – Winterthur
Freitag, 21. April 2023
Text und Bilder: Christian Wölbitsch
Big Thief sind schon lange kein Geheimtipp mehr. Kaum verwunderlich also, dass das Salzhaus in Winterthur an diesem Abend bis an die Schmerzgrenze mit Menschen gefüllt war, die nur eines wollten: Die Magie der Musik von Big Thief live erleben. Doch bis dahin brauchte es noch ein wenig Geduld. Lutalo Jones, ein Cousin von Adrianne Lenker, machte den Anfang. Er sagt über seine Musik: «Was mir hilft, die Art von Musik zu machen, die ich wirklich mag, ist dieses Unbehagen, die Unheimlichkeit, einfach am Leben zu sein […] Ich suche immer nach dieser Wärme – es ist eine bestimmte Schwingung.» Für seine Cousine Adrianne Lenker findet er folgende Worte: «Zu beobachten, wie authentisch und roh ihre Musik ist – wie sie mit ihrer Sprache und ihren Worten arbeitet – ist absolut schön. Und es war wirklich inspirierend und hat mich dazu gebracht zu sagen, dass ich es besser machen kann.»¹ Zur grossen Überraschung der Fans wurde Lutalo von Big Thief zur Bühne begleitet und es gab ein erstes Hallo mit Adrianne, Alexander, James und Max. Lutalo spielte ein ungewöhnlich langes Set von 45 Minuten. Seine warme, eher tiefe Stimme hatte beinahe meditativen Charakter, ohne dabei zu langweilen. Schön zu beobachten, dass die Zuhörer:innen voll dabei waren.
Nach dem üblichen Umbau eröffneten Big Thief mit: «Sadness As A Gift», «Stay» und «12,000 Lines». Die drei traurigschönen Balladen handelten allesamt von Liebe, Verlust und Sehnsucht. Vom ersten Moment an war sie da, diese unglaubliche Präsenz von Adrianne, das wunderschöne Zusammenspiel mit Alexander Buckley Meek an der Gitarre, Max Oleartchnik am Bass und James Krivchenia an den Drums. Warme Gitarrenklänge untermalten die leicht nasale, feine Stimme von Adrianne und James Krivchenia prügelte auf seine Drums ein, so dass es eine wahre Freude war. Er hielt die Band vom ersten Moment an zusammen, beobachtete aufmerksam die Bandleaderin und lies ihr den nötigen Freiraum. Seine Art zu singen und seine Körpersprache waren ein Schauspiel für sich, das so manchen Fan in Staunen versetzte. Krivchenia stieg 2016 als festes Bandenmitglied bei Big Thief ein. Er ist der Produzent des letzten Albums «Dragon New Warm Mountain I Believe In You». Kaum zu glauben, dass er als Solokünstler vor allem im Bereich der experimentellen, computerbasierten Musik unterwegs ist. Auch Alexander Buckley Meek ist als Solokünstler tätig, genauso wie Adrianne Lenker. Die beiden verbindet eine lange Freundschaft. Sie trafen sich vor über zehn Jahren, waren 2014 mit ihrem Van «Bonnie» unterwegs, bastelten an Melodien und Texten und veröffentlichten ihre erste Platte. Nach dem Fernwehsong «Certainty», der während eines dreitägigen Stromausfalls in der Küche mit Hilfe eines 12V-Zigarettensteckers aufgenommen wurde, folgte einer meiner Lieblinge: «Cattnails» (Rotkolbenblätter). Der Track ist geprägt von Kindheitserinnerungen Lenkers. Die Navajos glaubten, Rohrkolbenblätter seien ein Schutzzauber gegen Blitzschläge. Wunderschön wie der Song durch die markante, völlig unberechenbare Stimmführung Lenkers dargeboten wurde. Zwischen den Liedern bedankte sich Adrianne immer sehr förmlich und gleichzeitig leicht neckisch beim Publikum. Überhaupt konnte man sich nie sicher sein, was sie als nächstes vorhat. Wie zum Beispiel bei «Born For Loving You», als sie kurzerhand im Falsett «I Will Always Love You» von Whitney Houston als Outro darbot und alle Traurigkeit und Schwere in kindlichem Übermut gipfelte. Es wurde Zeit für ein paar lautere Stücke. Mein zweiter grosser Liebling «Masterpiece» machte den Anfang. Anschliessend folgten die Hits «Simulation Swarm» und «DNWMIBIY» aus dem aktuellen Album. Mit «Contact» war für mich der Abend vollkommen. Der Song aus «U.F.O.F.» zeigte – verträumt und schwerelos gespielt – eine weitere künstlerische Facette der Band.
Das vorwiegend junge Publikum war mehr als begeistert und hatte es vorgezogen, das Konzert weder über den aktivierten Videomodus ihres Handys noch durch tausende von Schnappschüssen zu geniessen, sondern präsent zu sein. Auch pausenloses Bierholen war nicht angesagt. Das tat der Stimmung gut und machte das Konzerterlebnis umso schöner. Dank der aufmerksamen Security, die laufend Wasserflaschen verteilte und ein wachsames Auge auf das Wohl der Besucher:innen hatte, konnten es auch wirklich alle bis zum Finale geniessen. Dieses erfolgte durch drei Zugaben, wobei Adrianne bei «Paul» einen zweiten Anlauf benötigte. Darauf folgte der befremdlich anmutende Song «Shark Smile», der die Geschichte eines Autounfalls zweier Geliebten erzählt, bei dem eine Person stirbt und die andere am Leben bleibt. Die Überlebende wünscht sich, sie wäre auch mitgenommen worden. Zum Schluss erschien Adriannes Bruder Noah Lenker mit Maultrommel auf der Bühne. Damit war klar, dass nun der letzte und kontroverseste Song «Spud Infinity» des aktuellen Albums kommen würde. Er passt wohl eher in die Kategorie der Gassenhauer. Als Stimmungskanone ohne grossen künstlerischen Anspruch war er bestens geeignet. So kamen die überglücklichen Fans nochmals richtig auf Touren.
¹) Übersetzung aus dem Mpls. St. Paul Magazine
Setlist Big Thief [Quelle: Setlist.fm]
- Sadness As A Gift
- Stay
- 12,000 Lines
- Dried Roses
- Certainty
- Cattails
- Horsepower
- Born For Loving You
- Masterpiece
- Not
- Dragon New Warm Mountain I Believe In You
- Simulation Swarm
- Contact
- Happiness
- Vampire Empire
Encore: - Paul
- Shark Smile
- Spud Infinity (with Noah Lenker)