57. Solothurner Filmtage
19. bis 26 Januar 2022
Website: solothurnerfilmtage.ch
Text: Michael Bohli
Ein Besuch an der 57. Ausgabe der Solothurner Filmtage ist für viele Menschen mit unterschiedlichen Interessen zu empfehlen. Auch etwa den Leuten, welche immer über den Zustand des Schweizer Films jammern und hiesige Produktionen im Kino meiden. Dabei ist die Auswahl beeindruckend gross, die Qualität sehr hoch und die Themen brandaktuell. In diesem Jahr weiss vor allem die Westschweiz mit einer Vielzahl an Einsendungen aufzutrumpfen, viele Geschichten drehen sich um weibliche Schicksale oder nehmen deren Perspektive ein.
Das macht die Auswahl der persönlichen Programmgestaltung nicht einfach. Wagt man sich in die kleineren Screenings mit obskuren Werken, oder gleitet man auf den Wellen der aktuellen und zukünftigen Hits mit? Die Mischung macht’s, auch 2022. Was sicher ist: Diese Filmtage sind aufgeweckt, am Puls der Zeit und nicht ohne Wagnisse.
Das gesamte Programm findet ihr hier.
Tides
Land / Jahr: Schweiz, Deutschland / 2021
Regie: Tim Fehlbaum
Website: vegafilm.com
Von der kaputten Zukunft ohne Wasser führt uns Tim Fehlbaum in seinem zweiten Spielfilm in eine kaputte Zukunft ohne Land. «Tides» erzählt die Geschichte einer entvölkerten Erde, aufgenommen in wunderbaren Bildern, die niemals an eine Deutsch-Schweizerische Koproduktion denken lassen, sondern stimmungsvoll und ja, nass daherkommen. Gemäss den Sehgewohnheiten Hollywoods, bis ins letzte Detail designt. Nach «Hell» brennt bei diesem Film wenig in den Augen, man fühlt sich durchweicht und watet mit den Figuren der ungewissen Zukunft entgegen.
Da sich leider das Drehbuch dieser Qualität nicht fügen möchte, hält «Tides» nach der Hälfte nicht mehr ein, was der Beginn verspricht. Klischees und bekannte Wendungen nehmen eine zentrale Position ein, die Komplexität bleibt nur eine Ahnung. Der Kinobesuch lohnt sich wegen dem Spiel und der Ausstattung trotzdem. Besonders, weil hierzulande viel zu wenige Genrefilme produziert werden.
The Bubble
Land / Jahr: Schweiz, Österreich / 2021
Regie: Valerie Blankenbyl
Website: swissfilms.ch
Der Dokumentarfilm über die Rentner-Gemeinde «The Villages» taucht tief in den destruktiven Kapitalismus der wohlhabenden und weissen Schicht der USA ein. 150’000 alte Personen leben auf einer riesigen Fläche im herausgeputzten Vorort, deren Wachstum Natur und normales Leben von Florida immer stärker gefährdet. Krank, absurd, überraschend – aber schlussendlich eine logische Zuspitzung im vorherrschenden System.
Valerie Blankenbyl begegnet den Bewohner:innen in «The Bubble» auf Augenhöhe und dokumentiert deren Alltag, sowie die Reaktionen in den umliegenden Städten. Wie wirkt sich eine solch enorme Planstadt auf die Natur, Bevölkerung und Gesellschaft aus, was darf und muss toleriert werden? Keine einfachen Fragen. Schade deswegen, macht es sich der Film an gewissen Stellen etwas zu einfach und gibt sich einer Narration mit formelhaften Punkten hin.
La Mif
Land / Jahr: Schweiz / 2021
Regie: Frédéric Baillif
Mit seinem neusten Spielfilm «La Mif» erzählt Frédéric Baillif die Geschichte eines Mädchenheimes, in der eine andere Art der Familie entstanden ist. Personal und Bewohnerinnen finden sich in einem Umfeld, in der jede Handlung Konflikte generiert, in dem jeder Mensch fragil ist. Durch seine aufgesplitterte Erzählweise offenbart der Film erst mit der Zeit die wirklichen Verbindungen und das Gesamtbild – wie im echten Leben sind unterschiedliche Perspektiven nötig, um die Wahrheit zu erkennen. Dadurch entsteht oft ein starker Sog, der beim Betrachten die Umgebung vergessen lässt.
Das gute Spiel der jungen Darstellerinnen und die gelungene Inszenierung machen «La Mif» zu einem emotionalen Drama, das mit kurzen Musikstücken von Johann Sebastian Bach die Tragik etwas aufbricht und Momente der Leichtigkeit im Leben zulässt. So bedient die Geschichte ähnliche Punkte wie «Sami, Joe und ich» (Karin Heberlein / 2020), zeichnet allerdings ein grösseres Bild mit mehr Intensität. Gerne verzeiht man gewisse Schwächen im Drehbuch.
Rotzloch
Land / Jahr: Schweiz / 2022
Regie: Maja Tschumi
Wenn ein Ort Rotzloch heisst, dann offenbart das nicht nur die extreme Eigenart einer Landessprache, eines Dialekts, sondern die hässliche Seite der Schweiz. Vom Wort zum Fremdenhass, mit ihrer Dokumentation «Rotzloch» untersucht Maja Tschumi die Zustände von Flüchtlingen im Asylheim am Vierwaldstättersee. Mit gesetztem Fokus auf Liebe und Sex nimmt der Film das universale Thema der Intimität und betrachtet den Alltag vier junger Männer, welche hierzulande für ihre Hoffnungen und Träume kämpfen.
Das ermöglicht einen direkten Einblick in deren Leben, wagt es aber nicht, kritische Punkte und kulturelle Konflikte tiefer anzugehen als sonstige Produktionen zum Thema Migration. Auch wenn stellenweise direkte Kritik am System geäussert wird, dröhnen danach wieder die elektronischen Sounds von Bit-Tuner und Feed The Monkey, welche die Aufnahmen der unüberwindbaren Bergen begleiten. Schön gefilmt (enges Format) und voller Emotionen, aber irgendwie unbefriedigend.
Loving Highsmith
Land / Jahr: Schweiz, Deutschland / 2022
Regie: Eva Vitija
Nach dem Film «Das Leben drehen» über ihren Vater war es an der Zeit für eine Geschichte über eine obsessive Frau. Eva Vitija wählte die weltbekannte Autorin Patricia Highsmith als Thema für ihren neusten Dokumentarfilm und liess sich in den Archiven und Tagebucheinträgen dazu hinreissen, das Liebesleben ins Zentrum von «Loving Highsmith» zu stellen. Eine interessante Wahl, werden dadurch Aspekte wie Rassismus und Antisemitismus etwas stiefmütterlich behandelt, auch weil die Auskunftsbereitschaft gewisser befragter Personen eher klein war.
Trotzdem ist die Produktion interessant und macht Lust, sich tiefer mit dem Werk der Autorin zu beschäftigen. Besonders die Montage, welche zwischen neuen Interviewaufnahmen, Archiv-Bildern, Fotografien und Ausschnitten aus Literaturverfilmungen wechselt, erzeugt einen schönen Fluss. Dazu gesellen sich von Schauspielerin Gwendoline Christie vorgelesene Gedanken und Sätze, das private und intime Leben Highsmiths vermischt sich mit ihren Romanen, Überlegungen zu Identität und Privatsphäre entstehen.