Human Rights Film Festival 2021
Kosmos – Zürich
Samstag, 4. Dezember 2021
Text: Cornelia Hüsser und Michael Bohli
Mir persönlich spielt es keine Rolle, welches Wetter bei einem Kinobesuch herrscht. Am Samstag war aber mit kaltem Wind und viel Niederschlag die beste Voraussetzung, um viele Stunden im Kosmos am Human Rights Film Festival zu verbringen. Da man nicht nur dazu eingeladen wird, sich in Vorführungen mit den Brennpunkten der Zivilisationen aller Welt zu beschäftigen, sondern das Rahmenprogramm den Besuch verlängert, gab es keinen Grund, bereits nach einem Film das Kulturhaus bei der Langstrasse zu verlassen.
Wichtig und informativ sind am HRFF die Gespräche und Fragerunden mit den Filmemacher:innen, welche nach den Screenings stattfinden. Dieses Jahr teilweise zwar via digitale Zuschaltung aber immer interessant und lehrreich. Elene Naveriani und Salomé Jashi hingegen waren am Samstagnachmittag persönlich zu Gast und stellten ihre georgisch-schweizerischen Koproduktionen vor, unterschiedliche, ergreifende und sehr wichtige Filme. Und die juristische Einführung zu «Should The Wind Drop» verhalf dem Publikum nicht nur, das Geschehen besser einzuordnen, sondern viele Fragen in einen Kontext zu bringen. Kino ist auch immer Diskussion, das wurde in Zürich auf beste Weise unterstrichen.
Wet Sand
Land / Jahr: Schweiz, Georgien / 2021
Regie: Elene Naveriani
Website: imdb.com
Konflikte lauern im Spielfilm von Elene Naveriani, die in Genf lebende Regisseurin hat sich mit ihrer ruhigen und wundervoll gefilmten Erzählung Wet Sand in die Heimat Georgien zurückbegeben, um dort das ländliche Küstenleben zu beleuchten. Das Titelgebende Strandcafé ist Dreh- und Angelpunkt für die statischen Tage, es treffen sich die immer gleichen Personen zu den immer gleichen Gesprächen. Als sich der Aussenseiter Eliko das Leben nimmt und dessen Enkelin Moe an den Ort zurückkehrt, wird nicht nur der Alltag von Amnon und Fleshka durcheinandergebracht.
Ruhig sind die Szenen, jede Geste und jeder Blick trägt viel Gewicht mit sich. Während Naveriani mit kurzen TV-Einspielungen die Aussenwelt mit all ihrer Zerstörung und dem Chaos kurz an der stoischen Oberfläche von Wet Sand kratzen lässt, ist das Filmgeschehen gefangen in Lähmung und der Präsenz alter Geister. Die Figuren stehen wie bei Roy Andersson in der Landschaft, die Sozialkritik an der georgischen Gesellschaft schleicht sich mit jeder Minute näher heran. Ein beeindruckender Film, der die Hoffnung nicht ausschliesst und trotz allen Repressionen Lebensmut und -sinn zulässt. «Follow Your Fucking Dreams», niemand hat gesagt, es werde einfach.
Der Film wird ein weiteres Mal am Montag, 6. Dezember, um 21:00 Uhr gezeigt.
Writing With Fire
Land / Jahr: Indien / 2021
Regie: Sushmit Ghosh, Rintu Thomas
Website: wiritngwithfire.in
Indien ist eines der gefährlichsten Länder für Journalisten – regelmässig werden sie aufgrund „Verbreitung negativer Einstellung gegenüber dem indischen Staat“ verhaftet. Writing With Fire begleitet eine ganz besondere Redaktion: jene von Khabar Lahariya in Uttar Pradesh. Hier arbeiten ausschliesslich Dalit-Frauen, „Unberührbare“ aus der untersten Schicht der hinduistischen Gesellschaft.
Der Dokumentarfilm setzt an der Schwelle zur digitalen Transformation der Zeitung an. Die Frauen werden mit Smartphones ausgestattet und lernen gerade, diese zu bedienen. Mit ihren Interviews und investigativen Reportagen betrachten sie das politische Geschehen kritisch und geben marginalisierten Gruppen eine Stimme: Opfern von Vergewaltigungen oder illegalem Bergbau, die sonst von der Polizei schlichtweg ignoriert worden wären.
Für die Redaktionsleiterin Meera ist Journalismus der Schlüssel zur Gerechtigkeit. Mit Durchsetzungsvermögen und Beharrlichkeit schafft sie es, ihre Arbeit als Reporterin und die Rolle als Ehefrau und Mutter unter einen Hut zu bringen. Sie inspiriert so auch die anderen Frauen in der Redaktion zur Selbstbestimmung – keine Selbstverständlichkeit in Indien.
Der Film wird ein weiteres Mal am Sonntag, 5. Dezember, um 21:00 Uhr gezeigt.
Taming The Garden / Grosser Baum auf Reise
Land / Jahr: Schweiz, Deutschland, Georgien / 2021
Regie: Salomé Jashi
Website: tamingthegarden-film.com
Ein grosser Baum wird, in tagelanger Arbeit, mitsamt Wurzeln dem Erdreich enthoben. Er wird eine Reise antreten, durch Strassen, über Berge und über das Schwarze Meer, um ein neues Zuhause zu bekommen. Um ihm den Weg freizumachen, müssen neue Strassen gebaut werden und andere Bäume ihr Leben lassen. Es ist ein logistischer Wahnsinn.
Hinter dem Projekt steht ein reicher Mann; er sammelt alte Bäume. Wir wissen, dass es sich bei dem Mann um den ehemaligen georgischen Premierminister Bidsina Iwanischwili handelt, doch der Film zeigt und benennt ihn nicht; er bleibt eine namenlose, rätselhafte treibende Kraft hinter den absurden Verschiebungen. Die Bilder, die Regisseurin Salomé Jashi zeigt, sind ruhig und beinahe meditativ, von skurriler Schönheit. Sie fokussiert aber nicht nur die Bäume; oft stehen auch die Menschen im Vordergrund, deren Umgebung sie entrissen werden. Die Geld dafür erhalten, aber auch trauern.
Erst ganz zum Schluss erhält man Einblick in die Destination der Bäume. Es ist ein Park immensen Ausmasses, gelegen an der Westküste Georgiens. Hier werden die Bäume wieder verwurzelt. Bis das passiert ist, wird es aber noch einige Jahrzehnte dauern: sie werden alle mit gespannten Seilen gesichert, bewässert und gepflegt. Der Anblick: schön und skurril zugleich.
Der Film wird ein weiteres Mal am Sonntag, 5. Dezember, um 15:00 Uhr gezeigt.
Ab dem Donnerstag, 9. Dezember 2021 läuft „Grosser Baum auf Reise“ im regulären Kinoprogramm.
Should The Wind Drop
Land / Jahr: Armenien, Frankreich, Belgien / 2021
Regie: Nora Martirosyan
Website: imdb.com
Die Situation um das international nicht anerkannte Land Bergkarabach ist keine einfache. Geopolitische Spannungen und ethnische Unterschiede verhindern Annäherungen, seit dem Krieg in den Neunzigerjahren ist der bewaffnete Konflikt nie zu einem Ende gekommen. Die Bevölkerung sehnt sich nach Normalität und Akzeptanz, ein Flughafen soll dies ermöglichen. Doch der französische Prüfer Alain stösst bei seinem Audit nicht nur auf technische Unklarheiten, sondern eine Umgebung, die stets kurz vor der Explosion steht.
Should The Wind Drop ist das Debütwerk von Nora Martirosyan und beschäftigt sich mit sehr realen und aktuellen Schwierigkeiten. Der Konflikt um Bergkarabach ist bei uns selten präsent, schon gar nicht im Kino, ein überraschendes Novum stellt die Erzählung also dar. In nachdenklichen Szenen und schön gefilmten Bildern wird das zerbrechliche Kaleidoskop von Bevölkerung und Politik aufgezeigt, Hoffnung und Freude erhalten ihren Raum. Trotzdem leider ist das Drehbuch zu wenig überzeugend, dass der Film emotional lange nachhallen könnte. Die Komplexität der Situation steht den gewählten Mitteln im Weg, ein situatives Vorwissen ist bei der Sichtung auf jeden Fall zu empfehlen.