Second Unit – Die Filmkolumne
Text: Michael Bohli
Zurück im Kino, hurra! Wochen und Monate musste man sich gedulden, bis die dunklen Säle voller Wunder ihre Türen wieder öffnen durften. Nun endlich ist es soweit und viele grossartige Filme warten darauf, von euch bestaunt und genossen zu werden. Da sich gewisse Starts über ein Jahr verschoben haben, ist die Auswahl an lohnenswerten Produktionen nicht zu klein, wir haben für euch fünf Filme ausgewählt, die unterschiedliche Aspekte des weltweiten Kinoschaffens beinhalten und an vielen Orten für Diskussionen gesorgt haben.
Alkoholrausch, Social-Media-Wahn, Probleme der Adoleszenz, kapitalistische Satire und ein wuchtiger Angriff auf das Patriarchat: Für anregende Stunden ist gesorgt, da spielt es keine Rolle, wenn unsere Schweiz weiterhin den Frühling im Regen verbringen muss.
Bitte beachtet die aktuell herrschenden Richtlinien und Konzepte beim Kinobesuch. Alle Informationen dazu findet ihre bei Dein-Kino.
Druk / Another Round
Regie: Thomas Vinterberg
Musik: Janus Billeskov Jansen
Land, Jahr: Dänemark, Niederlande und Schweden, 2020
Website: imdb.com
Noch selten hatte ich beim Konsum eines Filmes so stark Lust, das Gesehene mit Alkohol zu begleiten. Der Absturz nach dem einstweiligen Hoch folgt in Vinterbergs Sozialdrama Druk allerdings schnell – und zeigt die Auswirkungen von Trinkverhalten und Sucht realistisch und ungeschönt. Da sich der Film, nebst dem genial spielenden Mads Mikkelsen und geschickt eingebauten Reminiszenzen an die Dogme-95-Kultur (Licht, Musik, Handlungsrahmen), ein ambivalentes Ende gönnt, ist ein mitreissendes und intelligentes Abbild der gesellschaftlichen Alkoholsucht entstanden.
Mit guter Balance zwischen komödiantischen Einlagen, empathischen Szenen und harscher Realität wird von Vinterberg nie zu stark eine Tendenz eingeführt, belehrend ist das Gezeigte schon gar nicht. Viel mehr lädt der Film dazu ein, das eigene Suchtverhalten zu überdenken und die herrschende Gesellschaftsnorm zu hinterfragen. Der dänische Regisseur ist nach seinem Ausflug in den Mainstream („Kursk“) endlich wieder da, mit einem beeindruckenden Film, der „Jagten“ und „Festen“ ebenbürtig ist.
Sami, Joe und ich
Regie: Karin Heberlein
Musik: Dominique Dreier und Kilian Spinnler
Land, Jahr: Schweiz, 2020
Website: outside-thebox.ch
Filme über die schwierigen Jahre der Adoleszenz folgen zu oft einem typischen Schema. So auch diese Geschichte über drei Mädels, die ihre Schulausbildung abgeschlossen haben und sich nun in der Arbeitswelt zurechtfinden müssen. In den Hauptrollen geben sich Anja Gada, Rabea Lüthi, Jana Sekulovska Mühe, ihre Charaktere zum Leben zu erwecken, die emotionalen Ausbrüche werden durch knackige Popsongs von Danitsa, Ikan Hyu, Naomi Lareine und Caroline Alves begleitet. Schnell aber wird klar, die bekannten Klischees verlässt die Produktion leider nicht.
Natürlich spielt Sami, Joe und ich im Umfeld von Zürich, die Charaktere besitzen Migrationshintergrund und müssen sich mit den oft gezeigten Familienproblemen herumschlagen. Hausarrest, ein nerviger Bruder, die unterdrückte Mutter, Generationenkonflikte. Schön gefilmt (im engen, aber passenden Format), modern aufgezogen und am Ende erstaunlich überdreht, will leider nicht alles zusammenkommen. Etwas mehr Feintuning an Drehbuch und schauspielerischen Leistungen hätten gutgetan.
Sweat
Regie: Magnus von Horn
Musik: Piotr Kurek
Land, Jahr: Schweden und Polen, 2020
Website: imdb.com
Der Social-Media-Wahn ist nicht selten zentrales Thema eines modernen Dramas, die Schwedisch-Polnische Produktion Sweat verfängt sich glücklicherweise trotzdem nicht in den üblichen Klischees. So ist von Beginn an klar, dass die erfolgreiche Fitness-Influencerin Sylwia Zając mit ihrem Leben nicht mehr klarkommt, allerdings unfähig, die herrschende Welt aus Schein und Selbstdarstellung zu verlassen. Kommunikationsversuche mit Fans, Freunden und Familie laufen ins Leere, psychologische Hürden werden mit Vorurteilen und abschätzigen Kommentaren abgetan. Die Geister, die sie rief scheinen zu bleiben.
Viel neues wagt das Drehbuch nicht, die Inszenierung von Magnus von Horn und das Spiel (Magdalena Koleśnik ist in der Hauptrolle sehr sympathisch) bieten aber genügend Substanz, um den Film interessant und unterhaltsam zu gestalten. Das Abbild einer teilgespaltenen Gesellschaft wird aufgezeigt – Geltungsdrang und Wunschprojektion auf der einen, Ablehnung und Unverständnis auf der anderen Seite, ohne moralisch oder abschliessend eine Lösung zu präsentieren. Wie wir mit den digitalen Möglichkeiten und deren Auswirkungen auf unser Leben umgehen, das müssen wir selbst beantworten.
I Care A Lot
Regie: J Blakeson
Musik: Marc Canham
Land, Jahr: USA, 2020
Website: imdb.com
Welche Wucht ist denn Rosamunde Pike in der Rolle als Marla und wieso gab es dafür keinen Oscar? Sie spielt sich phänomenal durch den bunt gefilmten und wunderbar frechen Film über Verbrechen, Betrug und kapitalistischen Wahn. Das ist Pop, das knallt herrlich rein, mit genialen Kostümen und der perfekten Frisur Pikes. I Care A Lot nimmt die pinke Schere und schneidet ein grosses Loch in das betrügerische Verhalten des Neoliberalismus, vermischt Drama, Actionfilm und Satire zu einem schillernden Cocktail.
Bei einer solchen Energie fällt es fast nicht auf, dass die eigentlich versuchte Kritik am System zu plump verpufft und die Handlung im letzten Drittel stark die Bodenhaftung verliert. Was bis dahin als rabenschwarze Überzeichnung funktionierte, mutiert leider zu sehr in fantastische Gefilde und implementiert in den letzten Szenen eine moralische Botschaft. Soundgestaltung, Darsteller*innen (Eiza González!) und Atmosphäre sind allerdings auf höchstem Niveau, Langeweile kommt eh keine auf.
Promising Young Woman
Regie: Emerald Fennell
Musik: Anthony Willis
Land, Jahr: USA und UK, 2020
Website: imdb.com
Als der Trailer zu Promising Young Woman vor über einem Jahr in den Kinos gezeigt wurde war klar: Dieser Film ein Must-See. Das hat sich 2021 nicht geändert, lange musste man auf dieses Kinoerlebnis warten, jede Sekunde davon hat sich gelohnt. Der Film von Emerald Fennell ist ein knallbunter, tiefschwarzer und vielschichtiger Kommentar zu den herrschenden Zuständen im Patriarchat. Sexuelle Übergriffe von Männern an Frauen, institutionelle Ungerechtigkeit und korrupte Systeme – Carey Mulligan hält als Cassie dagegen an. Getarnt mit kindlich anmutenden Outfits und Gegenständen wird ihr Rachefeldzug von persönlicher Motivation gesteuert, resultiert dank dem genialen Drehbuch aber zu einem Angriff auf die falschen Werte der Neunziger, demontiert die Standards in Hollywood und rüttelt an der gesamten Welt.
Die Bilder sind packend, die letzten 20 Minuten extrem brutal: Der Film funktioniert als bissiger Kommentar und Spiegel zur eigenen Vergangenheit, unweigerlich beginnt man eigene Handlungen und Begegnungen zu hinterfragen. Auf jeder Ebene ist Promising Young Woman ein Meisterstück (Struktur, Ausstattung, Besetzung, Musik), brandaktuell und mit viel Kraft – ganz klar einer der besten Filme des Jahres, den niemanden verpassen sollte.