Michael Messerli – Redakteur
Dabei seit: Mai 2018
Klimaerwärmung, Kriege, AfD und Trump. Expert:innen, die sich offenbar lieber in spitzfindigen Diskussionen rund um Definitionen oder Prognosen verlieren, beispielsweise ob Trump nun ein Faschist sei oder nicht, anstatt die Dinge zu benennen, wie sie (bereits) sind. Zum Glück gibt es Filme, Literatur und Musik. Zum Glück gibt es Bands wie die Dead Pioneers, Kettcar, Fjørt und Die Nerven.
Die Alben des Jahres
- «Big Sigh» funktionierte 2024 während allen Jahreszeiten und immer dann besonders toll, wenn es dunkel war. Marika Hackman veröffentlichte das Album im Januar: Ein grosser, langer Seufzer, der sich atmosphärisch dicht sowie unverzichtbar über dieses Jahr legte.
- «Notes On Worth» ist der letzte von vielen eindringlichen Songs der Pillow Queens, in denen es um (queere) Liebe, Beziehungen und die damit verbundenen Kollateralschäden geht. «Name Your Sorrow» hat bis jetzt noch nicht die Wertschätzung bekommen, die es verdient.
- Die Nerven vertonen mit «Wir waren hier» die Klimakrise und die dazugehörige Rolle der Menschheit. Es ist das dritte starke Album in Serie, zudem klingen sie noch besser und das ganz ohne ihre Kratzbürstigkeit zu verlieren. Bei «Achtzehn» schmilzt man schliesslich selber dahin.
- Während man auch im deutschsprachigen Raum politisch wieder voll damit punkten kann, den Ausländer:innen die Schuld für alles zu geben, anstatt selber Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen, schreiben Kettcar ein Album wie «Gute Laune ungerecht verteilt». Danke dafür!
- Der Stilbruch findet bei Fontaines D.C. vorwiegend in der Optik statt. Sie klatschen einem die angestrebte Veränderung in grellen Farben an die gerunzelte Stirn. Dabei ist es das musikalische Wachsen in die Breite, welches auf «Romance» letztlich überzeugt.
- Sich in diesem Jahr an Ikigai versucht: klein anfangen, früh aufstehen, Morgenrituale – die einfachen Dinge. «Oath» von Mono war dafür der beste Soundtrack. Zudem ist die Produktion genial. Beispiel gefällig? Einfach mal aufs Schlagzeug achten.
Die Songs des Jahres
- «By the way/ This is not a political song/ It’s possible that everything we believе is wrong». Natürlich ist das ein «Political Song»! Das Debüt der Dead Pioneers ist ein wichtiger Kontrast zur Wahl von Donald Trump. Und die indigene Punkband eine der Entdeckungen des Jahres.
- Alte Lieblingsmusiker treffen auf neue Lieblingsmusikerin: Theo Bleak wurde wohl von vielen dank The Twilight Sad und «Don’t Borrow Grief From Later» entdeckt. Wenn man keine Duette mag: Hier wird man umgestimmt – oder hat zu gute Laune.
- «Dancer» von Idles ist entweder hot oder cool (man entscheide selbst) und hat einen sauguten Text. Geht runter wie Kakaobutter – «so to speak». Und am Schluss findet sogar der Teufel jemanden zum Tanzen.
- Ein erhabeneres musikalisches Denkmal kann man dem nordirischen Zentrum nicht setzen: «Mother Belfast, Pt. 2» vereint in sich alles, was das neue Album von And So I Watch You From Afar so toll macht.
- «Hurts» von Eliza & The Delusionals ist ein perfekter Popsong, ohne nach Radioformat zu klingen. Er hat sich bewährt im Auto, im Zug, im Tram und in der Gondel. Liegt wohl daran, dass man dazu in Bewegung bleiben will, weil er tatsächlich etwas bewegt.
- Public Service Broadcasting lassen uns mit Amelia Earhart abheben. Besonders umwerfend transportiert der Song «Arabian Flight» das Gefühl, selber in den Wolken zu schweben.
- Was für eine schöne Überraschung zum Jahresende: Craig B veröffentlicht mit Slovenly Hooks klammheimlich wieder Musik mit Gesang. Das traurig-düstere «The Dead Zone» wäre dabei auch bei all seinen Vorgängerbands mehr als positiv aufgefallen.
- Die Trümmer durchkämmen. Dass hier «Wreckage» von Pearl Jam auftaucht, hat vorwiegend persönliche Gründe. Sicher, dieser unverstellte, musikalisch an Tom Petty erinnernde Song ist catchy. Aber in erster Linie half er mitzunehmen, was noch ganz war.
Die Konzerte des Jahres
- Fjørt – Bogen F, 26.11.2024
Fjørt kämpften gegen die Dezibel-Grenze. Wer gewann, blieb unklar. Sie kämpfen aber auch gegen Nazis und man wird sehen, wie das ausgeht. Wären ihnen keine Grenzen gesetzt, sie würden mit ihrer Kraft vermutlich das ganz Viadukt zum Einsturz bringen. - Kettcar – Kiff, 29.08.2024
So geht Humanismus: es wurde geschwitzt (nicht überraschend), gepogt (überraschend) und mitgesungen (lauthals). Die Geschichten sind bereits in den Songs von Kettcar angelegt. Den Ernst der Lage erkennen, ohne den Humor zu verlieren – ein aufwühlender Abend. - Slowdive – Volkshaus, 30.01.2024
Slowdive als Jungbrunnen. Ein sanftes, visuell ansprechendes Konzert vor einem generationenübergreifenden Publikum – in der dafür perfekt passenden Location. - Fontaines D.C. – X-TRA, 05.11.2024
Fontaines D.C. sind da, wo sie hingehören. Hängen an der Decke, mit ihrem breiten Repertoire und einem grossartigen neuen Album. Mal schauen, wohin das führt. Live liessen sie im X-tra jedenfalls keinen Zweifel darüber aufkommen, wo sie hinwollen. - Arab Strap – Kaserne, 31.05.2024
Arab Strap bringen kein Licht in die schummrigen Ecken, aber beschreiben sie bildhaft. Und das ungefähr 20 Jahre nach ihrem letzten Besuch in der Kaserne Basel. Es wäre übertrieben, das eine kleine Sensation zu nennen. Doch bemerkenswert war es allemal.