Eigenveröffentlichung / VÖ: 15. März 2024 / Punk
nikramusik.de
Text: David Spring
Ist das Leben einfacher, wenn man sich die Scheuklappen eng aufschnallt und dem Rest der Welt keinen Gedanken mehr widmet? Wenn man die eigenen Emotionen einfach ausblendet und unbedarft und egoistisch durchs Leben stolpert? Oder ist es am Ende vielleicht doch nicht erfüllender, wenn man das Herz offenhält, die eigenen Gefühle, Sorgen und Ängste auf dem Ärmel trägt – und die Wut und den Schmerz in die Welt hinaus brüllt? Die faszinierende Künstlerin Nikra hat sich zweifellos und eindrucksvoll für letzteres entschieden.
Bereits der Titel ihrer neuesten EP lässt dies erahnen: «Bis ich in meinem Kopf ersaufe». Nikra ist eine stolze, queere FLINTA*, die laute, forsche und schmerzhaft ehrliche Musik für die Playlisten-Generation macht, der sowohl Gender- wie auch Genre-Zuweisungen zuwider sind, die freitags auf der Strasse für unsere Welt und die eigene Zukunft marschiert, Diversität lebt und deren Wut und Frustration oft höchstens von oben herab belächelt wird. Genauso klingt der Opener «Zeitgeist», eine so rabiate wie eingängige Abhandlung mit unserer Gesellschaft. Dabei schreit sich die Musikerin die Seele aus dem Leib, ohne je das Fingerspitzengefühl für vorzügliche Melodien zu verlieren. Musikalisch schwingen Bands wie Tyna, Petrol Girls oder Jennifer Rostock mit, wobei diese Einflüsse nur einen Bruchteil ihres musikalischen Spektrums abdecken.
«Vom Fliegen und Fallen», ein etwas gemächlicherer aber genauso eindringlicher Track, und das glorreich wütende und kathartische «Scherben» sind starke Punk-Hymnen, hinter denen sich viele Menschen mit der Faust in der Luft vereinen können. Doch richtig interessant wird es mit den restlichen drei Songs. Die melancholisch bluesige Single «Wer hat diesen Körper designt» ist eine brutal ehrliche und schonungslose Abhandlung zu den Themen Körperdysphorie und Schönheitsidealen und wohl eines der wichtigsten Lieder aus der Feder Nikras. Was dieser Song alles in einem auslöst…
Mit «Hund» geht es vielleicht sogar noch intensiver weiter. Die Gefühle und den Schmerz, die Nikra diese gewaltige, siebenminütige (!) Nummer an den Tag legt, schneiden tief und es ist unmöglich, davon unberührt zu sein. Sowohl musikalisch wie auch inhaltlich ist der Track eine brutale Selbstfindungs-Achterbahn. Den Abschluss macht dann das erneut sehr selbstkritische «Arschloch», ein unbequemer Post-Punk-Track, der einen schlussendlich erschöpft, erschlagen und voller rasender Gedanken zurücklässt.
Es ist wahrlich unfassbar, was die lediglich 22 Minuten lange EP mit einem anstellt. Selten war eine Künstlerin so ehrlich und nahbar ohne Rücksicht auf Verluste wie Nikra. Sie legt all ihre Emotionen offen und lässt uns daran teilhaben, so dass jeder Ton und jedes Wort mitgefühlt und verstanden werden. Auch wenn es wehtut oder bei manchen vielleicht wieder überhebliches Kopfschütteln auslöst – einem cleveren, talentierten jungen Menschen wie Nikra müssen wir zuhören. Denn ihnen gehört die Zukunft, und genau darum brauchen wir ihre Musik.