12. Juli 2016
Eigentlich sollte hier heute mein Bericht zum Konzert von Sun Kil Moon im Dachstock Bern den Leser verzücken, sich diese Musik reinzuziehen. Eigentlich. Doch das Konzert fand nicht statt. Die Tore des Berner Kulturzentrums Reitschule sind verschlossen und somit hat auch der Dachstock Sendepause.
Mit grossen Augen vernahm ich am Samstag das Communiqué der Reitschulbetreiber: „Wir haben keine Lust mehr darauf, Freiraum zu sein, dem nicht Sorge getragen wird. Aus diesem Grund bleibt die Reitschule bis auf weiteres geschlossen“. Punkt Ende. Was bleibt, im ersten Moment, ist grosses Erstaunen und eine unglaubliche Medienresonanz, so wie immer, wenn sich die Reitschule zu Wort meldet.
Eine Besetzung mit Folgen
Als die Reitschule 1987 besetzt wurde, ahnte wohl noch niemand das Ausmass dieser Hausbesetzung. Seither und ohne Unterbruch regieren die Reitschüler auf dem Areal in der Neubrückstrasse. Entstanden ist ein in der ganzen Stadt Bern, ja in der Schweiz einmaliges alternatives Kulturzentrum. Kein anderes hat einen nur annähernd so zwiespältigen Ruf wie die Reitschule. Kein anderes ist mehr der Inbegriff alternativer Kultur und basisdemokratischer Entscheide. In ihrem Manifest legen die die Reitschüler_innen fest, dass sie versuchen, sich Freiräume zur Verwirklichung von selbstbestimmtem und solidarischem Leben zu nehmen. Die Reitschule soll ein ausserparlamentarisches, linkes, politisches Zentrum einer vernetzten Bewegung in Bern und zugleich ein Ort sein, wo diese Kultur gelebt wird. Rebellisch, unterhaltend und bewegend soll sie sein, diese Stätte.
Das ist sie auch, ohne Zweifel wie die Jahre und die Ereignisse zeigen. Und genau darum steht sie auch seit jeher in der Kritik, wird beschossen, mittlerweile von allen Lagern von rechts bis links. Doch sind es schlussendlich dann nicht die politischen Kräfte, die Behörden oder der staatliche Sicherheitsapparat, der der Reitschule den Riegel schiebt? Nein, die Reitschüler selber wollen nicht mehr – vorerst. Sie wollen nicht länger als Sündenbock dienen. Auffangbecken sein für eine verkorkste Gesellschaftspolitik, welche die Schwächsten immer mehr an den Rand der Gemeinschaft drückt. Raus aus den Augen der „Normalen“. Der schlickige Sumpf der gleich denkenden Mitschwimmer, lässt kaum Platz für Inseln der Andersartigkeit, die so dringend in diesem strömungslosen Meer namens Kapitalismus gebraucht werden. Kapituliert nun wirklich auch noch die Reitschule, mit wehenden Fahnen, vor den kräftezerrenden Klauen dieses Monsters, das eben jenem genannten Freiraum und der Verwirklichung einer anderen Idee von Zusammenleben missgünstig und mit Argwohn entgegen blickt? Nein, mit der Schliessung halten die Reitschüler vielmehr uns allen einen Spiegel vor die Augen und das ist ein gewiefter und notwendiger Schachzug.
Freiraum ist kein Freipass
So habe auch ich mich diesem Spiegel gestellt und über meine Ansichten der Reitschule sinniert. Klar, viele durchzechte Nächte in der grossen Halle fallen mir ein. Aber auch gute, intensive Gespräche, die Grenzen durchbrachen. Manchmal auch illusorisches Gelaber, welches gleichwohl auch zum Nachdenken anregte. An so manches Tojo Theater kann ich mich erinnern. Natürlich an den Dachstock, die Rösslibar und den Frauenraum. Sie alle haben mir Musik in all ihren Facetten näher gebracht. Das und noch viel mehr ist Reitschule und eben nicht allein der Vorplatz, der bisweilen zu Recht in den Medien sein Fett weg bekommt.
Denn auch die Reitschule ist kein rechtsfreier Raum in diesem Land. Es sollte in erster Linie Freiraum sein in diesem Gebilde, dass sich Demokratie nennt. Freiraum ist schön ohne Widerrede. Doch auch in diesem Raum, der von Reglementen, Statuten und bürokratischem Schwachsinn bis auf’s Minimum befreit ist, müssen einige klare Verhältnisse stehen. Für mich sind es die Werte wie sie im Manifest der Reitschule stehen. Kein Rassismus, keine physischen, psychischen oder sexuellen Übergriffe, keine Homophobie, keine Ausbeutung und Unterdrückung, keine Gewalt. Kurzum auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebrochen, Nichts was jemand anderem oder mir physisch oder psychisch Schmerzen bereitet. Ist es nicht ein wundervoller Gedanke!?
Ein Lanzenbruch für die Kultur
Wenn ich mit dem Zug in den Berner Bahnhof einfahre, dann schaue ich gerne nach rechts, zum Münster und darüber hinaus in den Horizont wo sich die Alpen schneeweis bedeckt gen Himmel ragen. Und ich schaue auch gerne nach links zu der bunten Fassade der Reitschule, die zugegeben ungleich majestätisch zwar, doch mit ebenbürtiger Ausstrahlung wie die Berge mir entgegenstrahlt. Wenn ich dann die abwechselnden Inschriften auf dem Dach lese, stelle ich fest, dass mich diese viel mehr zum Nachdenken anregen, als die immer gleiche Kulisse der Berner Altstadt. Aber, ich schaue nach Links und nach Rechts und was ich auf beiden Seiten sehen kann, ist Kultur und Leben das sich auf so vielseitige Art miteinander verbindet.
So war und ist die Besetzung der Reitschule ein wichtiger Meilenstein in der stadtbernischen Geschichte. Eine Besetzung, die von der breiten Berner Bevölkerung auch getragen wird. Die Reitschule hat mittlerweile einen Leistungsauftrag gegenüber der Gemeinde und wird von dieser mitfinanziert. Die Reitschüler_innen sind somit, auch wenn sie das jetzt vielleicht nicht gerne hören wollen, von Besetzern ein klein wenig zu Mietern geworden.
Dennoch lebt der Geist der Besetzter weiter. In der grösstmöglichen Autonomie auf dem Areal. Dies wird zusehends jedoch mit Füssen getreten. Was entsteht ist ein verzerrtes Bild der Prinzipien der Reitschule. Links, rebellisch, ausserparlamentarisch aber trotzdem politisch. Es fragt sich, sind die Probleme der Reitschule selbst gemacht? Oder ist das aufbauschende Interesse der Medien und gewisser politischer Kreise, die die Reitschule mit allen Mitteln geschlossen sehen wollen, der Grund für den Zwiespalt? Vielleicht ist es die Meinung des Einzelnen der sich in dieser versteinerten Welt ständig selbst profilieren will. Da kommt eine Reitschule gut, die irgendwo zwischen Realität und Wunschdenken kreist.
Doch Autonomie heisst nicht Selbstbestimmung per se. Schlussendlich sind immer noch Mitmenschen da, die auch ihrem Lebensentwurf Daseinsberechtigung abverlangen. Man sieht, die Reitschule selber hat keinen grossen Spielraum, auch wenn es danach aussieht. Sie steht einfach nur da und symbolisiert einen Protest, Aufbegehren gegen alte Strukturen und nicht zu Letzt versucht sie damit die Menschen zum Denken anzuregen. Vielmehr aber vermag sie nicht auszurichten. Der Rest liegt immer im Auge des Betrachters und diese Meinungen gehen bekanntlich bei so viel Provokation der Reitschule weit auseinander.
So möchte ich hier und jetzt weder für noch gegen die Reitschule sprechen. Vielmehr breche ich eine Lanze für die Kultur, die Kunst, die Musik und die freie Meinungsbildung. Mitunter die wichtigsten Grundpfeiler einer freien und gütigen Gesellschaft. Die Berner Reitschule ist der Inbegriff dieser Grundpfeiler. Platon hat gesagt: „Kultur ist der Sieg der Überzeugung über die Gewalt“. Die Reitschule wächst mit ihrem Entscheid der vorübergehenden Schliessung über sich hinaus und bietet einen Denkanstoss der dringend notwendig war.
So bleibt heute eine kleine Enttäuschung zwar über das verpasste Konzert. Für die Zukunft aber sehe ich Kultur und Kunst und Musik, die grössten Errungenschaften der Menschen. Ohne Gewalt, Ausschreitungen oder Polizeieinsätzen. Ein klein wenig Verständnis jedes einzelnen für das Leben der anderen. Getragen wird dies alles mitunter eben auch vom Kulturzentrum Reitschule, das genau darum von dieser Stadt ebenso wenig wegzudenken ist, wie die Berner Aareschlaufe.
Text: Sebastian Leiggener
Bild: Nicole Imhof