15. Februar 2019
Volkshaus – Zürich
Band: Steven Wilson
Konzerte ohne Supportact stehen nicht gerade auf der Tagesordnung. Dreistündige Liveshows aber auch nicht. Dem „king of prog rock“ egal, er macht beides. Steven Wilson, seit über einem Jahr auf Tour mit seinem neusten Album „To The Bone„, ist mächtig in Form und hält die bunt durchmischte Besucherschar im Zürcher Volkshaus mit musikalischem Können, sympathischen Plaudereinheiten und einer gehörigen Portion visueller Specials bei Laune.
Bereits der Einstieg in die langatmige Show fordert gute Augen und ein waches Köpfchen: Eine angenehme Männerstimme begrüsst die Gäste und wünscht ihnen viel Spass, doch bevor das Konzert beginnt, soll die Aufmerksamkeit auf einen Kurzfilm gerichtet werden, der über einen riesigen Bildschirm zieht. Einzelne Bilder – Ku Klux Klan, Scientology, der Papst, ein Baby, eine lachende Familie, Krieg, eine Gruppe ausgelassen feiernder Freunde – unterlegt mit Wörtern wie „Truth“, „Science“, „Compassion“, „Enemy“, „Religion“, „Love“ oder „Lie“ werden nacheinander eingeblendet und noch bevor sich ein Muster oder eine konkrete Botschaft erkennen lässt, werden Bilder und Unterschriften erneut gezeigt, jedoch nun in veränderter Konstellation. Immer schneller wechseln sich die Momentaufnahmen ab. Dabei wird Scientology Wissenschaft, Religion, Feind; Das im ersten Durchlauf mit Liebe assoziierte Bild zum Feind; Das Foto der Partyfreunde zur Lüge.
Doch bevor man sich zu sehr mit dem eben Gesehenen auseinandersetzen kann – Politisches Statement? Erinnerung, dass jede Münze zwei Seiten zu zeigen vermag? Dass es eine Frage der Perspektive ist? – Wird Steven Wilson mit seiner Liveband auf der geräumigen Bühne begrüsst und der Vollzeit- und -blutmusiker zieht mit seinem Gitarrenspiel augenblicklich alles und jeden in seinen Bann. Analog zum neuerschienenen Livealbum „Home Invasion: In Concert At The Royal Albert Hall“ wird zuerst „Nowhere Now“ angespielt, ein leichter und nahezu fröhlicher Einstieg. Im Anschluss folgt „Pariah“, gleich um zu zeigen, dass es nicht nur was zu hören, sondern auch zu sehen gibt: Sängerin Ninet Tayeb erscheint als 3D-Hologramm vor der Bühne, während im Hintergrund Farbexplosionen über die Leinwand ziehen. Da vergisst man ja schon fast, sich auf die Musiker auf der Bühne zu achten – welche sich mächtig ins Zeug legen und anscheinend bester Laune zu sein scheinen.
Steven Wilson lässt es sich auch nicht nehmen, gelegentlich ein Schwätzchen mit dem aufmerksamen Publikum zu halten. Apropos Publikum: Dieses umfasst eine gewaltige Spannbreite an Sprachen, Haarfarben (von Blond zu Brünett über Violett bis hin zu schütterem Grau oder nonexistent), Altersklassen (Altersdurschnitt geschätzt bei Mitte dreissig, beginnend bei ca. sieben und endend bei siebzigplus) und modischer Orientierung (Oberteile mit Glitzermotiven und Kreolen oder aber Wacken- oder Pantera-Shirts). Und sie alle lauschen, wenn der barfüssige Typ mit Brille und kleinem Wohlstandsbäuchlein die Stimme erhebt. „Wir werden heute etwas Spass zusammen haben. Ich weiss, dass ihr nicht deswegen an meine Konzerte kommt – Ihr kommt, um depressiv zu werden, um euch nach dem Konzert suizidal zu fühlen. Aber wir werden heute Spass haben.“ Eine Möglichkeit, Spass zu haben: Drummer Craig Blundell mit arhythmischem Klatschen aus der Ruhe bringen. Dazu stiftet Steven Wilson das Publikum immer wieder an, mit der Begründung: „Ihr fragt euch vielleicht: ‘Wieso sollte ich meinen eigenen Gig sabotieren wollen?’ Nun, dies ist die 136. Show dieser Tour, wir müssen neue Wege finden, uns auf der Bühne zu unterhalten.“
Auf seiner Homepage kündete Steven Wilson an, dass die sich nun einem Ende neigende Tour bis auf Weiteres die letzte Möglichkeit sein wird, den Virtuosen mit seinem aktuellen Album live zu erleben. Ein neues Album, welches erneut andere musikalische Facetten aufzeigen soll, wurde sporadisch auf 2020 angekündigt. Derweil wendet sich der Musiker, der sich unter anderem durch Porcupine Tree oder Blackfield sowie zahlreiche andere Arbeiten als Musiker und Produzent einen Namen machte, auch wieder anderen Projekten zu. So erscheint 2019 nun, nach nahezu zehn Jahren Pause, neues unter dem Namen „No-Man“, dem Duo aus Steven Wilson und Tim Bowness.
Für alle unter 25-jährigen im Volkshaus stellt Steven Wilson seine Gitarre (soll heissen: eine seiner vielen Gitarren) vor. Schliesslich seien Gitarrensoli aus den Radiostationen moderner Musik verschwunden, weshalb zu erwarten sei, dass heutzutage nicht mehr ein jeder wisse, welche wunderbaren Klänge mit diesem Objekt hervorgebracht werden können. Wilson beschreibt die Gitarre als Verlängerung seines Körpers und seiner Seele, weshalb er nicht hinzuschauen brauche beim Solieren, sondern sich komplett dem Publikum zuwenden könne. Alle grossartigen Musiker täten dies – Solieren ohne kucken sei eben „Sexy as fuck“.
Nach über einer Stunde multimedialer Bühnenshow verabschieden sich die Musiker für eine fünfzehnminütige Pause – „I hope you don’t mind“. Das Licht geht an, Unterhaltungen beginnen, Zeit für Bier und Raucherpause. Gedränge und Platzneid scheint es bei diesem Konzert nicht zu geben. Auch in der zweiten Hälfte des Konzerts wird mit 3D-Hologrammen und Videoinszenierungen gearbeitet, wobei zwischendurch auch immer wieder Zeit bleibt, ohne schlechtes Gewissen die Augen zu schliessen und ganz auf Audio zu schalten. Das ständige Fokussieren auf Bildschirm und Animation verursacht nämlich Nackenstarre.
Beim Bespielen allerlei verschiedener Genres findet sich für jede Gemütslage etwas. Auch die Akustikgitarre, gepaart mit verzaubernden Klavierklängen, kommt zum Einsatz („Blackfield“ von Blackfield und „Sentimental“ von Porcupine Tree). Pianist Adam Holzman bekommt anschliessend anlässlich seines Geburtstags ein Ständchen des Publikums zu hören (wobei es einige Anläufe bedarf, bis sich alle im selben Part von „Happy Birthday“ wiederfinden).
„Wir haben zwei letzte Songs. Sie sind beide deprimierend – genauso, wie ihr es mögt – aber der erste davon hat einen ziemlich catchy Refrain. Ihr könnt also deprimiert sein mit einem Lächeln auf dem Gesicht und mitsingend. Der letzte ist dann einfach nur deprimierend.“ Es folgen: „The Sound Of Muzak“ von Porcupine Tree und, als krönender Abschluss, „The Raven That Refused To Sing“. Im Hintergrund der faszinierende und ergreifende Videoclip zum Song, der Herzen zu zerbrechen mag. In der Tat kein fröhlicher Abschluss. Somit letzten Endes doch noch den Erwartungen gerecht geworden.
Text: Sarah Rutschmann
Bilder: Christian Wölbitsch