Datum: 18. April 2013
Ort: Z7 – Pratteln
Bands: Pain Of Salvation / Anneke van Giersbergen / Artstíðir
Kühler Nieselregen empfing das Völklein von etwa 250 Konzertbesuchern, dass sich am frühen Donnerstag Abend vom Parkplatz der Z7 Konzertfabrik in Pratteln auf den Weg zum Eingangsbereich der Halle machte.
Wer jedoch durch die Tür in die abgedimmte Beleuchtung der Halle und von dort zur Bühnenfront trat, wähnte sich nach kurzer Angewöhnungszeit der Augen in einer gemütlichen Stube angekommen. Mit nordisch angehauchten Siebzigerjahre-Polstersesseln, Kuschelecke, Veilchentöpfen auf dem Klavier, Jimi Hendrix-Poster an der gemusterten Tapete und Audrey Hepburn auf dem Paravent. Halt jetzt, was wird hier überhaupt gespielt – ein gemütliches Wohnzimmer als Bühnenbild für Pain Of Salvation? Ein Luststück? Ein Kammerspiel? So mancher hatte beim Anblick dieser Szenerie wohl ein paar Runzeln auf der Stirn…
Daniel Gildenlöw, der Sänger von Pain Of Salvation, trat um 20 Uhr auf die Bühne – pardon – in die gute Stube und setzte sich gemütlich in einen der Polstersessel – allein. Und löste das Rätsel um das Bühnenbild auf: „Willkommen in unserer – und Eurer – Komfortzone – diese werden wir jetzt gründlich musikalisch demontieren!“, als es schon an der Wohnungstüre klingelt: „Bitte begrüsst mit mir die Band Arstidir!“
Gildenlöw sang denn auch „Road Salt“ – ein Pain Of Salvation-Cover von Arstidir – als Einstieg gleich selbst mit den fünf sympathischen Isländern, die ihre fantastischen Solo- und Chorstimmen mit akustischer Lead- und Bassgitarre, einem Piano, sowie einer Geige und einem Cello untermalten. Es folgten vierzig Minuten isländischer Folkrock vom Allerfeinsten – das Publikum konnte bei Songs wie „Heidin“, „Liod I Sand“, „Til Hennar“ und „Tárin“ farbige Nordlichter aufflackern sehen oder im Gold der Mitternachtssonne baden – Arstidir setzte als Vorband dem Konzertabend einen melancholischen, stimmigen ersten Höhepunkt.
Um zwanzig Minuten vor Neun trat die bezaubernde Anneke van Giersbergen (Ex-The Gathering, Ayreon „01011001“) im schwarzen Kleid und knallroten High Heels ins Wohnzimmer und begrüsste das Publikum auf ihre unnachahmlich charmante Art und Weise. Sich selbst allein auf der akustischen Gitarre begleitend, sang sie „Electricity“ als Einstiegssong. In der Folge sah man all die Metal- und Progheads im Publikum förmlich dahinschmelzen ob ihrer glockenhellen, sinnlichen Stimme. Bei Songs wie „4 Years“, „Time After Time“ (Cindy Lauper cover) und „Circles“ wurde hier und da verstohlen oder ganz unverhohlen eine Freudenträne aus dem Auge gewischt. Eine halbe Stunde dauerte Anneke van Giersbergen’s vom Publikum bejubelte Charme-Offensive, bei der sie für einzelne Songs von den Musikern von Arstidir unterstützt wurde. Für diesen Auftritt allein hätte sich das Eintrittsgeld schon gelohnt.
Die Lautstärke und die Akustik des Konzerts im Z7 waren sehr präzis auf den schon fast intimen Rahmen des Konzerts eingestellt – ein Kompliment hierfür ans Mischpult. Während dem Solo-Auftritt von Anneke van Giersbergen hoben Leute im Publikum sogar selbst die leeren Bierdosen vom Boden auf und entsorgten sie, um nicht scheppernd dagegen zu treten und damit den Musikgenuss zu stören. Ein Kompliment also auch ans anwesende Publikum für das hohe Mass an Rücksichtnahme.
Die halbstündige Pause, in der die Fans Autogramme, CDs und T-Shirts von Anneke van Giersbergen und Arstidir erhaschen und ein Erinnerungsfoto mit Ihren Idolen knipsen konnten, mochte die Spannung im Saal nicht zu brechen – Pain Of Salvation, die Hauptband stand erst noch an – und das fast, wie wenn sie zu Hause in der eigenen guten Stube spielen würden!
Das Hauptkonzert begann in gelassen nordischer Manier erst um Viertel vor zehn, als Frontmann Daniel Gildenlöw zusammen mit Roger Öjersson (Guitar, Co-vocals) die „Komfortzone“ betrat, um deren Demontage zu bekräftigen, während sich mit Gustav Hielm (Bass, Backing Vocals), Daniel Karlsson (Keys) und Leo Margarit (Drums) die anderen Bandmitglieder ihrer akustischen Instrumente behändigten.
Mit dem neuen, wunderschön melodiösen „Falling Home“ wurde dieses Unterfangen in Angriff genommen „in umgekehrter Reihenfolge“ wie Gildenlöw betonte. „Diffidentia“ in der akustischen Version tönt wie ein Prog-Rock-Song der ersten Stunde. „Linoleum“ wiederum, wie wenn Robert Plant zu seinen besten Zeiten ins Prog-Fach gewechselt hätte. „Ashes“ erinnert mit seinem Spieluhr-Thema an die tief melancholischen Prog-Balladen von Steven Wilson.
Nach diesem tiefen Taucher ins Prog-Bad war ein Country-Schmachtfetzen wie „Help Me Make Through The Night“ (Chris Kristofferson cover) von Gildenlöw im Duett mit Anneke van Giersbergen in der Kuschelecke des Wohnzimmers genau das Richtige. Dass sich das Prog-, Metal- und Gothic-Publikum danach schon fast die imaginären Cowboyhüte in die Stirn rücken wollte, wurde ihnen selbst peinlich bewusst, als das Duett vorbei und nach „To The Shoreline“ das Dio-Cover „Holy Diver“ (Swing-Reggae-Jazz-Version) folgte. Auch da wurde hemmungslos heimlichen Vorlieben gefrönt, besonders, als im Reggae-Teil das Bass-Riff von Bob Marleys „Get Up, Stand Up“ als musikalische Reverenz durchschimmerte.
Die Demontage der Komfort-Zone in guten Stube wurde mit aller Gründlichkeit mit an einigermassen peinliche – wie in „Disco-Queen“ – oder eigene schmerzliche Erinnerungen rührende – wie in „Second Love“ Song-Flashbacks konsequent zu Ende geführt. Ein echtes Konzert-Highlight war allerdings der musikalische Flash-Forward in die frühen 2000er-Jahre mit dem Song „Spitfall“ – ein kritisches Stück über den damals ubiquitären Gangsta-Rap, in dessen Refrain Gildenlöw und die Band aber einen derartigen Rap-„Flow“ hinkriegt, dass sich selbst Eminem noch eine Scheibe davon abschneiden könnte. Mit einem in seiner akustischen Version wunderbar sphärisch klingenden „The Perfect Element“ endete schliesslich das eigentliche Konzert, nach einem kurzen Abschied der Band.
Nach andauerndem Rufen, Klatschen und Pfeifen des Publikums betreten Pain Of Salvation, und nach und nach Anneke van Giersbergen und die Musiker von Arstidir nach halb zwölf nochmals die Bühne, um mit dem Kansas-Cover „Dust In The Wind“ und den beiden Songs „Chain Sling“ und „1979“ eine viertelstündige Zugabe der Extraklasse zu geben. Danach verabschiedete sich das Plenum aller elf Musiker vom begeisterten Publikum.
Und da war da noch… ach ja, da war der Gast, der sein Konzert-Ticket mitten während dem Konzert an der Bar abgeben wollte und sich beschwerte, er sei doch nicht hierhergekommen, um ein „Weihnachtskonzert“ zu hören. Schade für ihn, denn für die meisten anderen war dieser Konzertabend wohl tatsächlich wie ein zweites Mal Weihnachten. Und erst noch fast wie bei sich zuhause – früher mal.
Text: Beat Murmann
Bilder: Kathrin Hirzel