23. März 2016
Kongresshaus – Zürich
Band: Dream Theater
„Oh shit!“ entfährt es mir, als ich meinen mir zugewiesenen Sitzplatz finde. Die nette Dame am Ticketschalter hat mich zwar vorgewarnt; „Hat man sie informiert, dass Pressetickets nicht die besten Plätze sind, was die Sicht auf die Bühne angeht?“, aber das habe ich nicht erwartet. Schräg vor meinem Sitzplatz ganz vorne auf der Galerie hängt ein grosses Banner, das ein Fantasy Rabe und das Wort „Ravenskill“ zieren und welches mir die Sicht auf die Hälfte der Bühne versperrt. Das Drum Kit sowie die grossen LED-Screens, die Dream Theater für diese Produktion aufgefahren haben, bleiben mir grösstenteils verborgen. Das ist insofern etwas beunruhigend, als John Petrucci, Gitarrist von Dream Theater und alleiniger Autor sowie Co-Komponist des aktuellen Albums „The Astonishing“, in Interviews betont hat, dass das visuelle Element bei dieser Konzertreihe eine massive Rolle spielen werde. Und ich sehe davon nicht einmal die Hälfte. Oh shit, indeed.
Um mich zu beruhigen, versuche ich mich zu erinnern, was ich über Dream Theater‘s neues Album „The Astonishing“ weiss. Eine Rockoper ist es, 130 Minuten lang und thematisch eine Mischung aus „Game of Thrones“, „The Matrix“ und „Star Wars“, komplett mit einer Messiasfigur, einem Tyrannen, Schwertkämpfen, Verrat, Mord und Totschlag. Das klingt natürlich alles etwas albern und ich muss zugeben, dass mich das Album beim ersten Durchhören nicht umgehauen hat. Zu viel Disney, aber ohne Humor.
Trotzdem bin ich sehr gespannt auf die Live-Umsetzung. Dream Theater haben angekündigt, dass sie auf dieser Tour das Mammutwerk ganz und von Anfang bis Ende spielen werden und nichts anderes. Auf Hits wie „Pull me Under“ wird man verzichten müssen. Ob das gut kommt? Wir werden, ich zumindest zum Teil, sehen.
Nach einem kurzen elektronischen Intro „Descent of the Nomacs“ betreten Petrucci, Bassist John Myung, Keyboarder Jordan Rudess (der zweite Komponist von „The Astonishing“), Drummer Mike Mangini und Sänger James LaBrie unter erwartungsvollem Applaus die Bühne. Alle wirken konzentriert; ihnen und uns steht ein fast zweieinhalbstündiger musikalischer Kraftakt bevor. Und dann legen Dream Theater los.
„The Astonishing“ ist 34 Stücke stark. Die für Dream Theater typischen Mini-Instrumental-Epen wechseln sich mit Hymnen, Balladen und Interludes, welche die Stimmung der Szenerie transportieren, ab. Das ist viel Musik und verlangt, nein, verdient Aufmerksamkeit. Von den Visuals sehe ich nur einen Seitenscreen, ich muss der Story ‒ in der Opernsprache sagt man „Libretto“ ‒ über die Musik folgen. Und egal, ob mir die Platte gefallen hat oder nicht, die Musik ist massiv und dem Titel entsprechend, erstaunlich. Dream Theater sind eine gut geölte, perfekte Musikmaschine; jeder Ton hat seine Aufgabe und seinen Platz. Die ungeraden Takte, die unzähligen unmöglichen Breaks und Tutti-Parts kommen aus einem Guss daher, wie wenn sie von einer Person mit zwölf Armen gespielt würden. Ein kosmisches Uhrwerk, so empfinde ich Dream Theater an dem Abend.
Noch etwas fällt mir auf. Mein vermeintlich schlechter Sitzplatz ist der Hammer! Zugegeben, ich kann weder Mangini spielen noch die Leinwände sehen. Aber ich sitze vielleicht vier Meter von Petrucci entfernt. So nah, dass ich seine Fingernägel sehen kann! Score! Auch auf LaBrie, Myung und Rudess habe ich fantastische Sicht. Im Verlauf all dieser Musik fällt mir auf, dass ich keine Leinwände mit animierten Trickfilmen brauche um zu erkennen, was für eine ausserordentlich Live-Band Dream Theater sind. Wahrscheinlich würden mich die ganzen Filmchen von der Musik ablenken. Während 130 Minuten ist mir nie langweilig. Ich sehe, was diese Band kann, was sie ausmacht. Ich sehe das kosmische Uhrwerk.
Natürlich gibt es einzelne Details, gute und weniger gute, die Erwähnung verdienen. Die Balladen auf „The Astonishing“ sind etwas gar schmalzig, und da es ein paar zu viel hat, bremsen sie immer wieder die Band aus, wenn sie mal in Fahrt gekommen ist. Das ist natürlich schade, denn seien wir ehrlich: Dream Theater sind am besten, wenn sie tun, was sie am besten können. Und das ist, aus tausend Teilchen mit atemberaubender Geschwindigkeit riesige, unmögliche Klangebilde zu bauen. Highlights in dieser Hinsicht sind für mich „A New Beginning“ und die ersten 90 Sekunden von „A Life Left Behind“.
James LaBrie verdient auch besondere Erwähnung. Er verkörpert alle Figuren in „The Astonishing“, Männer wie Frauen, und das ganz natürlich, ohne dass sein Gesang affektiert herüberkommt. Es sind eher emotionale Nuancen, mit deren Hilfe er die verschiedenen Charaktere mehr andeutet als schauspielert. In Kombination mit den Filmen, die angeblich auf den Leinwänden laufen, ist diese Strategie sehr wirkungsvoll. Ausserdem singt LaBrie ohne Teleprompter, was bei einem streng getimten und mehr als zwei Stunden langen Programm wie diesem, eine reife Leistung ist. Seine Kollegen, ausser Petrucci, der das Ding geschrieben hat, brauchen iPads mit cheat sheets oder gar den notierten Parts.
Das Publikum weiss die Leistung zu würdigen, ohne dass aber wirklich Stimmung aufkommt. Ausser höflichem Kopfnicken und Fusswippen sieht man nicht viel Bewegung. Zu sehr ist es eine Darbietung in klassischem Sinn. LaBrie versucht zweimal, die Leute zum Mitsingen zu bewegen, aber die Songs sind ihnen noch nicht vertraut genug. So wird bei „Hymn of a Thousand Voices“ ein Chor vom Band gespielt, wo es auch Sinn macht, damit der Titel des Stückes nicht unfreiwillig komisch herüberkommt.
Schade und unnötig finde ich, dass bei vielen Stücken backing tracks eingesetzt werden. Ich spreche hier nicht von Klangeffekten, die der Story dienen, sondern von musikalischer Unterstützung. Die haben Dream Theater nun wirklich nicht nötig.
Aber das sind Details. Alles in allem habe ich das Konzert sehr genossen. Hier mein Fazit:
„The Astonishing“ ist ein ambitioniertes Vorhaben und Dream Theater sind eine sehr starke Live-Band. Das ganze Album vollständig zu spielen ist etwas, dass heute nicht mehr viele Bands zu tun und den Mut dazu haben. Das Publikum gehört in der Regel zur „ich-will-alles-sofort-youtube-und-nur-genau-das-was-ich-will-spotify-und-am-besten-noch-gratis“-Generation und hat kein Geduld für ein komplett neues Programm ohne die ihm bekannten Hits, geschweige denn ein 130 Minuten langes. Die meisten Bands spielen deshalb neues Material eher am Anfang des Konzertes, wo das Publikum noch frisch ist und Goodwill zeigt. Die Hits, auf welche sowieso alle warten, leben am Schluss des Sets und müssen ums Verrecken gespielt werden, will man, dass die Leute beim nächsten Mal wiederkommen.
Dream Theater haben das alte Dilemma gekonnt und mutig umgangen und uns ein Konzert beschert, das wir so wahrscheinlich nie mehr zu sehen und hören kriegen werden. Deshalb: Vielen Dank, und Hut ab!
Text: Mark Lim
Bilder: Kathrin Hirzel