16. August 2019
Steinberggasse – Winterthur
Bands: AnnenMayKantereit / Alice Phoebe Lou / Ocean Alley
Webseite: musikfestwochen.ch
Darf man Gleichberechtigung und Respekt fordern, und dann als Frau primitive, unsachliche und sexististische Bemerkungen über Musiker machen? Der Mann an meiner Seite meinte: Ja, unbedingt, das haben die Männer verdient. Darum muss ich es so sagen: Schade, haben Ocean Alley nicht oben ohne gespielt. Die knackigen Surfer verbringen ihre Tage zuhause in Australien bestimmt mit Wellenreiten, um abends am Strand selbstgejagte Tiere zu grillieren und dazu kräftig an grossen Tüten zu ziehen. Komplett tiefenentspannt und unerschütterlich positiv eingestellt. So klang auch ihre Musik, mit der sie diesen spätsommerlichen Abend in der Steinberggasse füllten: Mit viel Können und Liebe gespielte Melodien. Mangels neuer, aufregender Klänge liessen sie im Zuhörer-Gehirn vielleicht nicht haufenweise neue Synapsen wachsen. Denn Vieles kam sehr bekannt vor, wirkte nicht gerade überraschend. Darum hätte etwas visuelle Stimulation in Form wohlgeformter Männeroberkörper nicht geschadet. Ob Ähnliches durch die Köpfe der übrigen, ebenso entspannt mitschaukelnden Konzertbesucher*innen ging? Das musste ich mir gleich bei einem Bier überlegen.
PSSSSSSSSST sagten Kleber an allen Bars laut und deutlich. Muss ich meine Bestellung jetzt flüstern, oder was? Natürlich nicht, die nette Bardame bediente mich ganz normal. Leider wurde der Sinn der Aufforderung kurz später klar, bei der wunderbaren Darbietung von Alice Phoebe Lou. Obwohl unweit der Bühne stehend, verstand ich kein Wort von dem, was die zierliche Sängerin mit dem unheimlich langen blonden Feen-Haar über “female Sexuality” sang, dafür wurde mein Ohr von hinten ordentlich bedient mit HEY GÄ, ICH BIN JA IN MEXIKO IDE FERIE GSI, VOLL GEIL, HEY JA… NÄÄÄI, WIRTSCHAFTSRÄCHT ISCH EIFACH VOLL DOOF, DAS WÜRI SICHER NÖD NÄ…MUESCH UNBEDINGT AU NO IN NORDE GA, ICH SÄGS DER. Zum Glück war die Soundqualität ganz hinten im Zuschauerraum fast gleich gut, aber das Gelaber dank geringerer Dichte besser erträglich. Alice Phoebe Lous Stimme ist wirklich phantastisch und zusammen mit ihrer Entourage kreierte sie wundervolle Klanggebilde. Etwa “Galaxies” entführte einen in sphärische Märchenwelten. Dass Alice Phoebe Lou erkältet war, merkte das Publikum nur, weil sie es sagte. Sie sei schon bei ihrem letzten Auftritt in Zürich erkältet gewesen. Und kennt sich sogar in Kantonsgeographie aus. Offensichtlich hatte Alice Phoebe Lou trotz angeschlagener Gesundheit viel Spass auf der Bühne.
Das hatte auch die nächste Band und verwöhnte die mittlerweile riesige Crowd gefühlt während Stunden. Wäre es meine Band aus Teenagerzeiten, würde sie WyssBarthMüller heissen. Da von uns drei Freundinnen nur eine musikalisch begabt ist (leider nicht ich), war ich froh, dass stattdessen AnnenMayKantereit auftraten. Das sind die Nachnamen der drei Freunde aus Köln, die sich im Gymnasium kennengelernt hatten. Schon ab Konserve begeistert die markante, soulige Stimme von Henning May: tief, warm und rauchig. Live verzauberte sie noch mehr. Eingebettet in tolle Songs, brachte sie die Steinberggasse zum schwingen. Nebst Klassikern wie “Barfuss am Klavier” wurden auch einige neue, noch unveröffentlichte Lieder gespielt, eines mit dem Text “Ich will einen Ozean zwischen mir und deiner Vergangenheit”. Ob die Show besser gewesen wäre mit knapp bekleideten Musikern, habe ich mir nicht einmal überlegt.
Text: Nicole Müller
Bilder: Christian Wölbitsch