Michael Messerli – Redakteur
Dabei seit: Mai 2018
Das Jahr 2023 war vielmehr ein Konzertjahr als ein Plattenjahr. Die grossen Highlights fanden auf der Bühne statt. Im Albumformat fehlte es oft an Innovation und Mut. Viele Bands blieben abgeklärt und souverän, was nicht schlecht ist, aber eben auch selten wirklich aufregend. Selbstverständlich gab es Ausnahmen – und Unerwartetes.
Die Alben des Jahres
- Die schönste Überraschung war «Rest Lurks» von Lichen Slow. Völlig unaufgeregt, aber in diesem Fall mitten ins Schwarze treffend in Bezug auf Humor und Melancholie. Der Song «Tense» und die Stimme von Joel Harries spendeten nach jeder unruhigen oder schlaflosen Nacht Trost.
- The Murder Capital aus Dublin lieferten mit «Gigi’s Recovery» das beste Post-Punk-Album des Jahres, weil nicht nur die Texte eine Geschichte erzählen, sondern auch die Gitarren und das alles wunderbar ineinandergreift. Bis einem spätestens bei «Only Good Things» das Herz aufgeht.
- Weniger überraschend ist, dass Slowdive hier auftauchen, die mit «Everything Is Alive» wieder überhaupt nicht das Album aufgenommen haben, das nach ihren bisherigen klingt. Bisschen innovativ, bisschen mutig und vor allem umwerfend schön. Mit «Alife» gibt es sogar einen kleinen Hit.
- Auch umwerfend und ein echter Geheimtipp ist «Defamator» von Singer-Songwriterin Chloe Gallardo. Ein gewisser Zauber wohnt diesem Debüt inne, das zuweilen nicht nur entrückt neben sich steht, sondern einen nach dem «Last Dance» auch mit einem mulmigen Gefühl zurücklässt.
- Slow Pulp schleichen sich durch die Hintertüre in den «Yard» und fallen nicht mit der am Eingang ins Haus. Dann aber machen sie es sich gemütlich und wollen ihren wundervollen Indie-Rock gar nicht mehr gehen lassen. Bis das tolle «Broadview» alle rausschmeisst.
Die Songs des Jahres
- Wenn man vor lauter Tränen nichts mehr sieht. «The happy end is near», singen Culk in «Willkommen in der Hedonie» dermassen schwermütig, dass man weiss, wie es gemeint ist. Das klingt schonungslos nach der letzten Party vor dem Weltuntergang.
- Das Jahr 2023 bot leider ein paar Momente, bei denen der Song «To Rage» gut passte. Dabei ist die Zweideutigkeit einer Textzeile wie «I left the room destroyed» genauso stark wie das ganze dazugehörige Album. Daughter wären damit fast in der Liste oben gelandet.
- «Days of Lantana» von Ben Howard funktioniert als entspannter Aufwachsong an freien Tagen, aber auch für die Phasen, in denen einem der Kuhmist am Schuh kleben bleibt. Und manchmal für beides gleichzeitig.
- Es dauerte ein bisschen, bis Spanish Love Songs bei mir landeten. Dass es geschah, hat sehr viel mit «Exit Bags» zu tun. Ein simpler Song für komplexe Gefühle. Und manchmal braucht es einfach gute Menschen, die nicht aufhören, dir eine Band andrehen zu wollen.
- Ein Beat, ein Klavier, Bläser und eine Stimme, die Herzen bricht – würde dies der traurig-treue Blick von Grian Chatten nicht schon längst getan haben. «East Coast Bed» bringt die Melancholie zum Tanzen und begleitet auch die schüchternen Menschen zum Rummelplatz.
- Während man versucht, bei «To Be Felt» von Egyptian Blue die Füsse stillzuhalten, spielen andernorts die Hände Luftschlagzeug und weil das hier längst aus dem Ruder läuft, zuckt der Rest des Körpers mit dem Bass mit. Der Kopf nickt sowieso ständig.
- «The Answer Is Always Yes» heisst das Album von Alex Lahey und bei Drogen ist dieses Motto natürlich alles andere lebensbejahend, denn nur allzu schnell kippt die Stimmung. Freude am Experiment oder jugendlicher Leichtsinn? «The Sky Is Melting» kennt die Antwort nicht.
- Man hätte 2023 locker fünf Songs von Deichkind auf diese Liste packen können. Meine Wahl geht auf «Nummer Sicher», weil sie hier grossartig nahe am Hip-Hop sind. «Ja Digga/ Sicher ist sicher ist sicher».
Die Konzerte des Jahres
- Russian Circles, 11. August 2023
Zum ersten Mal live gesehen, bei der letzten Ausgabe des Rock Altitude in Le Locle. Hier passte alles: Sound, Band und Ort. Begeisterung gepaart mit grosser Wehmut, dass es dieses Festival nicht mehr geben wird. - Brutus, 10. August 2023
Auf 2104 Metern über Meer, an einem der unwahrscheinlichsten Orte für ein Rockkonzert: bei der Cabane Brunet im Rahmen des PALP Festivals im Val de Bagnes. Unvergesslich für Band und Publikum. Und so nahe wie hier kommt man Brutus in diesem Leben nicht mehr. - Godspeed You! Black Emperor, 15. April 2023
«Hope» stand an die Wand vom Dachstock in Bern projiziert. Das ist nicht neu. Aber das, was danach folgte, könnte auch andere Gedanken oder Unbehagen auslösen. Weil eine der unfassbarsten Rockbands unserer Zeit vielschichtig bleibt. - Fjørt, 29. Januar 2023
Das Trio aus Aachen im brechend vollen Ampere in München live zu erleben, zeigte zwei Dinge auf: Die Band hat seit ihrem fantastischen vierten Album «Nichts» endgültig einen berechtigten Satus erreicht und sie hat drei Herzen, die für viele andere mitschlagen. - Thees Uhlmann, 30. Juni 2023
Thees im Mokka ist Pflichtprogramm. Ein Energiebündel zu Gast bei Freunden – am Cholererock Openair in Thun. Es wurde gelabert, gelacht, umarmt, geraucht, getrunken und ach ja, er spielte auch Musik.