6. März 2020
Werkk – Baden
Bands: Radio Havanna / Vizediktator
Was wäre Punkrock ohne Solidarität und Mithilfe? Vor allem in Zeiten von Krisen und globalen Pandemien, wie wir sie im Moment erleben, zeigt sich, dass die Weltuntergangsstimmung nicht immer obsiegen muss. Das Konzert von Radio Havanna wurde in Zürich abgesagt, die Veranstalter von Soundmanöver legten sich mit der Band umgehend ins Zeug, um einen alternativen Austragungsort zu finden. Kurz danach bekannt gegeben werden, dass die Sause neu im Werkk in Baden stattfinden würde. Internationale und interkantonale Zusammenarbeit, wie sie im Bilderbuch steht.
Los ging es auf der geräumigen Werkk-Bühne mit den Damen und Herren von Vizediktator aus Berlin. Und auch wenn die angereisten Fans in der grösseren Venue etwas verloren wirkten, taten die Berliner alles, um die Stimmung zum Kochen zu bringen. Der gutgelaunte, sommerliche Punkrock von Vizediktator überzeugte mich von Beginn an, stellenweise an die Beatsteaks oder an Kraftklub erinnernd, fand ich es schwer, hierzu ruhig stehen zu bleiben. Sänger Benni jagte wie wild über die Bühne und begab sich auf die Tanzfläche runter. Ein überschwänglicher, grosser Punk im Publikum versuchte, die wenigen Leute an den Bühnenrand zu manövrieren und gleichzeitig Benni zu verstehen geben, dass dieser sich doch da mal reinwerfen sollte. Da wohlgemerkt nur um die 20 Leute dastanden, zierte sich letzterer ziemlich und meinte, der Fan soll das lieber erstmal vormachen. Dies liess man sich nicht zweimal sagen und Sekunden später wurde der Typ von einer Handvoll Motivierten durch den Raum getragen, Benni glaubte seinen Augen kaum. Sehr lustig mitanzusehen, der energetische Sänger konnte da keine Schwäche zeigen und im nächsten Augenblick war auch er auf den Händen der Leute.
Diese Aktion war genau das, was der Abend brauchte, denn ab diesem Moment war plötzlich Bewegung da. Es wurde auf einmal getanzt, gepogt und von der Bühne gesprungen. Die Musik von Vizediktator machte Stimmung, Lieder wie „Kreuzbergs Scherben“, „Hollywood Europa“ oder „Stadt Aus Gold“ heizten das Werkk für Vorgruppen-Verhältnisse unfassbar gut auf. Mit „Halleluja“ kam man ans Ende, das etwas ruhigere, dafür umso epischere Lied hatte alle im Griff. Vizediktator überzeugten auf ganzer Linie, es war augenscheinlich, wie sehr sich Band und das Publikum darüber freuten, dass das Konzert stattfinden konnte.
Während der Umbaupause gab es auf der Herrentoilette ein spontanes Konzert von einem Typen mit Handorgel, der „Zu Spät“ von Die Ärzte und viele weitere Gassenhauer zum Besten gab. Das war äusserst amüsant und, wie sich später rausstellen sollte, auch nicht das letzte Mal, dass wir den Herren sehen sollten. Nach dem Intro mit Polizeisirenen und einem Blasmusik-Orchester-Stück ging es alsbald mit „Krach“ so richtig los. Radio Havanna legten sich ins Zeug und gaben von Beginn an alles. „Lasst uns zusammen Baden austrinken“, war die Devise, ein Aufruf, dem brav Folge geleistet wurde. Bei „Früher Oder Späti“ tauchten riesige aufblasbare Biergläser auf, die das Publikum durch die Gegend warf, bis eines davon irgendwann auch Sänger Fichte über den Kopf gestülpt wurde. Dadurch liess sich der gute Herr natürlich nicht aus der Ruhe bringen und sang das Lied blind weiter. Bierselig ging es weiter und es freuten sich auch alle umso mehr, als während „Herzschmerzsaufen“ grosszügig Pfeffi an Band und Fans verteilt wurde.
Bei all der Ausgelassenheit durfte die eine oder andere politische Nachricht nicht fehlen. Das wundervolle „Homophobes Arschloch“ sprach mit seinem unmissverständlichen Titel und Refrain für sich selbst. Vor „Faust Hoch“ wiederum wurde eine Rede eingespielt, die den Mord an Lokalpolitiker Walter Lübcke durch einen Rechtsextremisten letztes Jahr thematisierte, entsprechend solidarisch und wütend wurde wirklich jede Faust im Saal in die Höhe gereckt. Und als nach dem wundervollen „Faschist“ laute „Nazis raus“ aufkamen, wurde dies mit den lobenden Worten „das ist auch schön, da geht sogar den Schweizern die Neutralität ab“, goutiert. Radio Havanna machten klar, dass mit ihnen bei diesen Themen nicht zum Scherzen ist, der gemeinsame Hass auf alle Ungerechtigkeiten der Welt, auf den steten Rechtsruck und rechtsextreme Gewalt und nicht zuletzt auf vermeintliche Volksvertreter wie die SVP oder AFD, brachte an diesem Abend alle zusammen.
Irgendwann wurden im Publikum Rufe nach dem Stück „Rettungsboot“ immer lauter, was die Band zum Anlass nahmen, den Typen mit der Handorgel auf die Bühne zu holen, um genau dieses Stück zum Besten zu geben. Mr. Handorgel begab sich inklusive seines Instruments auf Crowdsurf-Reise und Radio Havanna wähnten sich alsbald als die totalen Rockstars, indem sie bei „Anti Alles“ vier kraftvolle Konfetti-Kanonen zündeten, die alle in Papierschnipseln badeten. Für das akustisch vorgetragene „Goldfischglas“ setzten sich alle hin, um etwas zum Durchatmen zu kommen, bevor alle mit dem Nina Hagen Cover „Farbfilm“ und dem grandiosen „König Von Deutschland“ endgültig fertig gemacht wurden.
Irgendwann war dann Schluss und Radio Havanna bedankten sich nochmals überschwänglich bei den tollen Leuten von Soundmanöver und vom Werkk, dass dieser Abend so kurzfristig und allen Widrigkeiten zum Trotz gleichwohl durchgeführt werden konnte. Dieser Dank gilt auch meinerseits, denn das Konzert war wirklich hervorragend organisiert, der Sound war fantastisch, das Werkk ein überaus sympathischer Schuppen und die Tatsache, dass alles trotz Corona-Panik so durchgeführt werden konnte, eine grandiose Leistung. Mit „Kaputt“ drehten nochmals alle durch, Menschen hingen von den Lichttrossen, Fichte durchquerte die ganze Halle auf Händen getragen und so ging ein wundervolles Konzert zu Ende. Das Werkk war um einen denkwürdigen Abend reicher und Radio Havanna überzeugten auf ganzer Linie als eine der sympathischsten, aktivsten und besten deutschen Punkbands, die ich seit langem erleben durfte.
Setlist [Quelle: setlist.fm]
1. Krach
2. Immer Noch Da
3. Homophobes Arschloch
4. Früher Oder Späti
5. Alles Nur Geklaut (Die Prinzen Cover)
6. Coole Kids
7. Antifaschisten
8. Mein Name Ist Mensch
9. Monster
10. Helden
11. Raketen
12. Herzschmerzsäufer
13. Faust Hoch
14. Simsonpunk
15. Rettungsboot
16. Phönix
17. Schwarzfahrer
18. Anti Alles
19. Goldfischglas
20. Utopia
21. Farbfilm (Nina Hagen Cover)
22. König Von Deutschland
Zugaben
23. Flüstern, Rufen, Schreien
24. Faschist
25. Kaputt
Text: David Spring