Datum: 25. April 2015
Im Gespräch mit: Carrie Grr
Steven Wilson hat mal wieder den richtigen Riecher und die passende Idee gehabt. Mit seinem Konzeptalbum „Hand. Cannot. Erase.“ bietet er und seine Band nicht nur musikalisch eine herausragende Leistung, sondern er übertrifft sich auch mit dem visuellen Beitrag sowie inhaltlich.
Was er aus dem Thema „Isolation“ und „Einsamkeit“ herausgeholt hat, sucht meiner Meinung nach seines Gleichen. Dafür ließ sich der Engländer von der traurigen Geschichte einer jungen Frau inspirieren, die zwei Jahre lang tot in ihrer Londoner Wohnung zwischen verpackten Weihnachtsgeschenken lag.
Um den Hörer auch visuell auf die Reise der einsamen, von der Aussenwelt isolierten Frau mitzunehmen, beauftragte er den Künstler Lasse Hoile, mit dem er schon sehr lange zusammenarbeitet, den Film und die Bilder für das Album sowie die Live Show zu gestalten.
Die Darstellerin Carrie Grr nimmt in diesem Zusammenhang eine ganz bedeutende Rolle ein und verkörpert den beschriebenen Charakter in Fleisch und Blut. Sie ist allgegenwertig und gibt der Geschichte das Gesicht. Über Steven Wilson selbst wird mittlerweile genügend berichtet, daher hat es mich brennend interessiert, was Carrie über die Zusammenarbeit und Visualisierung des Konzeptes zu erzählen hat.
Liane: Carrie, du bist im neuen Steven Wilson Konzept “Hand. Cannot. Erase.” als Schauspielerin und Model omnipräsent. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
Carrie: Welch grosse Überraschung, alles hat mit Instagram begonnen. Ich bin seit vielen Jahren Steven Wilson Fan und war von seinem Song „Harmony Korine“ total angefressen. Ich habe es ununterbrochen angehört und den Video Clip von Lasse Hoile dazu angeschaut. Dies gab mir den Impuls, mich regelrecht in Lasse`s Werke zu graben und dadurch habe ich seinen Online Instagram Account gefunden.
Wie man das halt so macht, begann ich ihm dann dort zu folgen. Schon bald entdeckte ich, dass er mir dann ebenfalls folgte. Ich dachte dann, ich prüfe mal, wie vielen anderen Personen er ebenfalls folgt und wem. Dies tat er nur bei ganz wenigen Leuten und da machte ich aus einer Laune raus einfach Nägel mit Köpfen und schrieb ihm ein paar Zeilen. Ich erzählte ihm was ich so mache und dass ich grosses Interesse an einer Zusammenarbeit hätte.
Wir haben uns dann ein paar Mal geschrieben und irgendwie passte alles zusammen. Steven und Lasse entschieden dann, mich als Hauptfigur für das neue Konzeptalbum “Hand. Cannot. Erase.” zu wählen. Das war einer der grössten Momente für mich.
Wie wurdest du auf die Geschichte vorbereitet. Dein Beitrag ist neben der Musik sehr wichtig, da er der Geschichte die passenden Bilder dazu liefert. Zudem ist der Inhalt vom Thema her sehr emotional und intensiv. Es geht ja um Isolation, Einsamkeit und den Tod.
Zunächst einmal musste ich den Dokumentarfilm „Dreams Of A Life“ anschauen. Ich habe diesen mehrmals gesehen und da ist ganz schön viel bei mir hängen geblieben. Obwohl die Arbeit in diesem Projekt sehr viel Spass gemacht hat, behielt ich den eigentlichen Hintergrund der Geschichte immer im Kopf. Das war für die Umsetzung der Stimmung sehr wichtig und auch um im Einklang mit der Rolle zu sein.
Die nächste Aufgabe war es, „Under The Skin“ von Jonathan Glazer anzuschauen. Die Atmosphäre, der Stil und die Stimmung dieses brillanten Films waren eine Inspiration für alle in der „Visuals Crew“. Das war genau die Art einer düsteren Erzählung, die wir erreichen wollten. Zudem haben wir über die Rolle eine Menge Gespräche mit Lasse geführt. Wir haben darüber diskutiert, wer sie ist, wie sie aussieht, wie sie sich fühlt, wie sie sich benimmt, was sie tut, warum und wann. All dies wurde bereits besprochen, bevor Lasse in Polen eingetroffen ist.
Wie lange hat es gedauert all die Fotos, Videos und den Film fertig zu stellen? Welchen Einfluss hatte Steven Wilson auf das Endprodukt? Wollte er die volle Kontrolle darüber behalten?
Es dauerte zwei Wochen, um alle Bilder mit Lasse aufzunehmen. Ich hatte alles arrangiert. Es gab vieles drum herum zu erledigen, wie zum Beispiel die Unterkunft für Lasse zu suchen, die Kamera welche wir brauchten zu buchen, das passende Studio ausfindig zu machen, Leute zu finden welche bereit sind zu helfen, und so weiter.
Lasse lieferte Steven fast jeden Abend ein paar Bildproben und hielt ihn so auf dem laufenden. Danach gab er uns immer Feedback dazu und er beauftragte uns, tonnenweise Fotos aufzunehmen, so dass er eine gross Anzahl Bilder zur Auswahl vorliegen hatte, aus der er dann auswählen kann. Auf der anderen Seite dauerte es einige Monate, um alle Videos zu filmen. Krzysztof Czechowski, der bei einem Foto-Shooting eine kleine Rolle als meinen unglücklichen Partner spielte, war zufällig auch ein begnadeter Fotograf.
Lasse fand seine Werke sehr gut, deshalb sind wir schließlich in Poznań (Polen) geblieben, um die Video-Mission zu bewerkstelligen. Er hatte vollstes Vertrauen in uns und so hatten wir freie Hand. Wir fotografierten, was immer in die Geschichte passen würde. Wir lieferten dann das fertige Material an Lasse, und er bearbeitet am Ende alles für die Show.
Aber das war noch nicht das Ende der Geschichte. Ich musste nach Aarhus (Dänemark) reisen, wo Lasse lebt, um das Video für den Titelsong zu schießen – „Hand. Cannot. Erase.“. Davor kam Youssef Nassar nach Polen, um mit mir und mit Hilfe von Krzysztof Czechowski, das Video zu „Happy Returns“ zu schiessen. Es gab also eine Menge Filmerei zu erledigen.
Hast du ein paar spannende “Backstage” Geschichten die du mit uns teilen möchtest?
Nun, wir hatten einige lustige Momente mit Lasse, denn die meiste Zeit nahmen wir Bilder im “Guerrilla-Style” auf, wenn du weisst was ich meine. Daher mussten wir an bestimmten Orten die Sicherheit einfach ausser Acht lassen. Einmal haben wir in Polen mit einem Polen nur Englisch gesprochen und der arme Kerl hatte gar nicht verstanden um was es geht. Ich spreche ja polnisch und konnte ihn natürlich verstehen, musste mich aber verstellen. Er sagte Dinge wie “Du bist in Polen! Du solltest Polnisch reden!” Ich musste mir das Lachen sehr verkneifen. Das war eine lustige Situation.
Eine andere lustige Sache war die Geschichte mit der Katze, Lajka. Die war das Haustier meiner Filmrolle. In Wirklichkeit ist es die Katze meines Bruders und sie hasst mich. Es war nicht leicht, mit ihr zu drehen und ich stiess bei ihr auf Schritt und Tritt auf Ablehnung. Irgendwann bekam ich ziemlich Angst ihrer Majestät zu nahe zu kommen. Sie fauchte und kratzte mich und sie verweigerte jede Art von Kooperation. Ihre Rolle war eigentlich das ruhige, brave “Kitty Cat”…
Dann war da noch die Sache mit dem Rauchen. Ich spiele in der Geschichte eine starke Raucherin, wie man auf den Bildern und im Film beobachten kann. Ich habe jedoch vor mehr als zwei Jahren mit dem Rauchen aufgehört und plötzlich musste ich mich wieder mit dem Rauchen befassen. Es gab Momente da schüttelte es mich regelrecht, weil ich ganz schnell eine Nikotin Überdosis hatte.
Ich erinnere mich an die „Happy Returns“ Dreharbeiten – Youssef Nassar, Krzysztof Czechowski und ich verbrachten einen extrem langen Arbeitstag mit Dreharbeiten in der „Wohnung meines Charakters“. Wie viele Zigaretten hatte ich an diesem Tag? Ich kann es nicht wirklich sagen. Aber nach 12 Stunden Dreharbeiten und Rauchen hat sich meine Muskulatur geweigert, weiter zu machen und ich zitterte, mir war übel und und schwindelig.
Der Dreh zum „Hand.Cannot.Erase.” Video in Dänemark lief auch nicht ganz so reibungslos ab. Diejenigen von euch, die es während der Tour gesehen haben, wissen, dass das Video viel mit Wasserspritzer zu tun hat. Ich hatte keine Ahnung, dass das Wasser welches direkt auf mein Gesicht herunter laufen wird, mir das Gefühl von Ertrinken geben würde. Die Crew war von meiner Panik komplett überrascht. Es ist lustig, wenn ich jetzt darüber nachdenke, zum Zeitpunkt hatte ich aber wirklich grosse Angst.
Wie auch immer, Thailändisch Abendessen mit Lasse und ein Bier später war ich wieder bei guter Laune. Jeder ist mal offen für ein kleines Abenteuer, nicht wahr? Es gibt so viele lustige Momente von denen ich erzählen könnte, aber ich möchte nicht langweilig werden. Wie auch immer, ich werde sie zu schätzen wissen, weil sie spezielle Erinnerungen für mich sind.
Kannst du uns ein bisschen mehr über die Drehorte erzählen? Ihr wart hauptsächlich in Polen und in Dänemark?
Ja, hauptsächlich in Polen. Wir haben ziemlich hart gearbeitet und sind ewig durch die Stadt Poznan gewandert. Wir sind zwischen Wohnblocks und in der Stadtmitte umhergelaufen, zum Hauptbahnhof gegangen, dann entlang der Haupteinkaufsstraße, zum alten Marktplatz, auch in den Einkaufszentren haben wir nach passenden Locations gesucht , in Parks, im Kulturzentrum Zamek (Schloss) und noch an vielen anderen Orten. Auch in der Wohnung, im Studio, in einem Vorort von Poznan und selbst auf dem Land weit weg von Poznan haben wir gedreht.
Das Buch, also die Deluxe Edition, ist wie gewohnt von Steven Wilson, ein Kunstwerk für sich geworden. Es wurden Dinge wie Tagebücher oder die Geburtsurkunde beigelegt. Auch sind viele Kinderbilder zu sehen und handgeschriebene Texte. Sind das alles deine persönlichen Sachen?
Alle Bilder sind aus meiner Kindheit. Es ist mein eigenes Leben neu geschrieben, so kann man das sagen. Es war notwendig eine Figur zu schaffen, die ein Mädchen aus Fleisch und Blut verkörpert. Ein Mädchen, das ist wie du und ich. Es sollte so glaubhaft wie möglich rüber kommen. Alle jene losen Gegenstände wurden zu diesem Zweck geschaffen, um die Geschichte einer realen Person zu erzählen. Man kann ihre Geburtsurkunde, Kassettencover oder ein Teil ihrer frühen Jahre in Form eines herausnehmbaren Tagebuchs anfassen und Teil von ihrem Leben sein.
Das gleiche gilt für den Online-Blog. Das ist ihr Leben und sie teilt es mit Menschen, die sie nie getroffen hat. Die Handschrift in der Deluxe-Edition ist nicht von mir, meine ist jedoch im „Happy Returns“ Video zu sehen.
Als ich von der aufwendigen Live Show gehört hatte, dachte ich, Steven würde dich in die Show mit integrieren. Es wäre ein Mix aus Musik und ein bisschen Theater gewesen, das hätte ich mir gut vorstellen können. Auch finde ich, dass die Stimmen der Sängerinnen irgendwie gut zu dir und dem Charakter passen.
Sehr schön, das zu hören. Kein Wunder, dass du mich mit den weiblichen Stimmen auf dem Album in Verbindung bringst. Das ganze Konzept geht um die weibliche Perspektive und ich habe mein Gesicht ins Spiel gebracht und damit wird alles zu einer Einheit. Ich würde gerne ein Teil der Show werden! Schauen wir mal, wie es weiter geht …
Du hast die Show in London besuchen können. Wie war es dich dort auf der Leinwand zu sehen?
Die Show im Troxy, London, war das erste Konzert dieser Tour für mich. Steven Wilson hatte ich jedoch schon des Öfteren live erleben können. Lasse Hoile, der für die Bearbeitung der Videos verantwortlich gewesen ist, hielt sie bis zur Show unter Verschluss. Nur ein kleiner Teil an Ausschnitten sind mir gezeigt worden. Die London Show war also eine Premiere. Ich war überwältigt, was Lasse aus dem Material was Krzysztof und ich abgeliefert hatten, gezaubert hatte. Nicht zu vergessen der Beitrag von Youssef und der ganze Rest der “Visuals Crew”!
Es liegt dem Buch eine Postkarte bei mit einer Adresse in London. Was erwartet mich, wenn ich dort hin gehe?
Wenn du dort hin gehst, findest du riesige Wohnblöcke vor, die in den Jahren 1965-1967 erbaut wurden.
Bekommst du jetzt mehr Angebote seit der Zusammenarbeit mit Hoile/Wilson?
Eigentlich ja, aber ich bin sehr wählerisch was das angeht. Ich bevorzuge die Qualität, anstelle einer unzähligen Menge neuer Bilder. Deshalb habe nehme nicht alles an. Es wird also keine Carrie-Flut kommen.
Was wäre die nächste mögliche spannende Kooperation für dich?
Ich würde gerne beim Thema Musikproduktionen bleiben. Nicht nur als Model, sondern auch als Produktionsleiterin – das ist, was ich hier in Polen die ganze Zeit gemacht hatte. Es gefällt mir sehr, alles zu planen und zu koordinieren. Jetzt wo ich mit “Hand.Cannot.Erase.”noch mehr Erfahrung sammeln konnte, würde ich gerne anderen Musikern in Polen bei der Videoproduktion und den Foto-Sessions helfen. Die Zukunft wird zeigen, was dabei herauskommt. Vielleicht werde ich ja auch in zehn Jahren eine Ziegenfarm besitzen? Ich sage niemals nie…(nun fast niemals).
Wie würdest du dich in 5 Worten beschreiben?
Leidenschaftlich, liebenswert, humorvoll, hin und her gerissen zwischen extrovertiert und introvertiert sein, Hedonist.
Da haben wir viel gemeinsam. Und wenn du Steven Wilson beschreiben müsstest? Ich empfinde ihn als schüchtern und seriös. Kannst du das bestätigen?
Ich habe Steven bisher zweimal getroffen. Was kann ich über ihn sagen, ohne ihn wirklich gut zu kennen? Er ist sehr auf seine Arbeit konzentriert. Er ist immer mitten im Geschehen und steuert alles in die richtige Richtung. Als Person finde ich ihn sehr höflich, bescheiden und was ich besonders toll an ihm finde ist, dass er sich sehr um seine Gesprächspartner kümmert. Selbst wenn er nach der Show total erschöpft einem gegenüber steht, gibt er einem die das Gefühl kein Störfaktor zu sein. Er ist vielleicht seriös, aber auf keinen Fall schüchtern…
Interview: Liane Paasila
Bilder: Lasse Hoile