Flugplatz – Interlaken
Freitag, 10. Juni 2022
Text: David Spring
Ich bemerkte mein fortschreitendes Alter mehr denn je am zweiten Tag des Greenfield Festivals, als ich ohne Hangover und Gebrechen gut ausgeruht in meinem Zelt erwachte. Kein exzessives Saufen und Party bis in die frühen Morgenstunden hilft. Der erste Blick über den Zeltplatz verriet aber, dass es lange nicht allen so ging. Ein Bild für die Götter, schön zu sehen, dass die Menschen das Feiern nicht verlernt haben.
Am Festival wurde vermehrt auf das Wohlergehen der Besucher:innen geachtet. So gab es eine witzig mitanzusehende Metal-Yoga-Session im Rckstr-Block, die sich grosser Beliebtheit erfreute. Das beste Quality of Life-Angebot jedoch war die sogenannte „AnsprechBar“, ein Angebot der Metal Church, bei der man sich im Falle von Sorgen und Problemen melden und Beratung in Anspruch nehmen konnte. Meiner Meinung nach ist dies eine wichtige Sache und ein kurzes Gespräch mit Nadine Zurbrügg, der „on tour“-Bereichsleiterin, zeigte, dass das Angebot, zu dem neuerdings auch eine waschechte Kapelle mit Bierdosen-Kreuz und LED-Kerzen gehört, rege genutzt wurde. Schön zu sehen, dass die Festival-Seelsorge ebenfalls einen Besucherrekord verbuchen durfte.
Musikalisch begann der Tag mit piekfeinem Metalcore aus Zürich. Artifiction, die Gewinner des Greenfield Contests 2020, überzeugten mit ihrem Mix aus heavy Breakdowns und mitsingbaren Melodien. Mit Baroness ging es auf der Hauptbühne mit der wahrscheinlich einzigen Band des diesjährigen Festivals weiter, die Anzeichen von Stoner Rock in ihrem Sound verstecken. Fette Riffs, cooler Gesang und wuchtiger Groove kamen beim zugegebenermassen noch etwas erschlagenen Publikum bestens an.
Die Eiger-Stage wurde die Heimat von ordentlichem Metalcore, Boston Manor spielten mit ihrem tighten und abwechslungsreichen Set zu wilden Mosh- und Circle Pits auf. Die Jungs machten alles richtig und lieferten den besten Gig des Tages ab. Als der Sänger in die Mitte einer riesigen Wall of Death stieg, gab es kein Halten mehr. An diese Energie und Spielfreude konnten die alten Hasen von Bad Religion, die danach die Jungfrau-Stage beehrten, nicht ansatzweise heranreichen. Natürlich liefern die Urväter des Ami-Punks eine solide Show ab, doch ähnlich wie bei The Offspring am Vorabend muss ich sagen, dass ich die Herren mittlerweile genug gesehen habe. Da lob ich mir die neuen, aufregenden Bands.
Es war wieder mal Fütterungszeit und vor allem Moment, um die alternden Gelenke im stets vollen Essenszelt etwas auszuruhen, bis als nächstes die Piratenrocker von Alestorm anstanden. Diese gewannen die Sympathie des Publikums mit der mit Abstand besten Bühnendekoration: eine riesige, gelbe Badeente zierte die Bühnenmitte – glorreich. Der grenzdebile Sauf-Metal der Band war genau das Richtige für einen feuchtfröhlichen Freitagnachmittag, spätestens das grandiose „Fucked With An Anchor“ brachte alle zum Jubeln. Die grossartigen Burning Witches konnten den Spass-Level derweil nicht so hochhalten, überzeugten aber mit einer wilden und aggressiven Show, die einmal mehr schmerzlich klar machte, dass FLINTA*s auf den Greenfield-Bühnen stark untervertreten waren.
Eine der Bands, auf die sich das ganze Festival enorm freute, waren Jinjer. Dass die Gruppe um Chef-Schreihälsin Tatiana Shmayluk aus der Ukraine überhaupt bis nach Interlaken reisen durfte, grenzte an ein Wunder, entsprechend emotional und aggressiv war ihr Auftritt. Obwohl es keine einfache Musik zum Mitgehen ist, hatten die Leute massig Spass und zelebrierten die Ausnahmekünstler gebührend. Und wie es so ist, folgte auf Grossartiges eine herbe Enttäuschung: Rise Against. Ich sage es ungern, aber Tim McIlrath ist einer der schlechtesten Live-Sänger aller Zeiten, und was immer für Wurstfinger am Mischpult sassen, taten dem Ganzen noch weniger Gefallen. Eine Band mit solch genialen, emotionalen Songs so schlecht klingen zu lassen, gleicht einem Verbrechen.
Mit schlechtem Gesang ging es leider weiter, denn auch At The Gates taten ihrem Sound mit einem Sänger, der klang, als ob er zu viel Helium gegurgelt hatte und gleichzeitig fünf Packungen am Tag raucht, keinen Gefallen. Schade, die Melodic Death Metal-Heroen aus Schweden hätten musikalisch überzeugt. Und auf die Gefahr hin, mir ganz viele Feinde zu machen, muss ich sagen, dass ich auch nicht verstehen kann, warum Volbeat schon wieder Headliner dieses Festivals sein durften. Die Leute hatten zwar Spass und die Show, die aufgezogen wurde, konnte sich auf alle Fälle sehen lassen. Für mich aber gehört der Country-Metal der Dänen niemals zuoberst auf das Plakat. Aber das Publikum hatten Freude, drehte durch und ich versank passenderweise in der Cowboy-Bar bis in die frühen Morgenstunden im Bier – wie war das nochmals mit Erwachsenwerden?
Tag zwei des Greenfield Festivals bot uns wundervoll viel Sonne, verbrannte Kniekehlen und eine musikalische Achterbahnfahrt. Einige der alten Hasen, die schon seit Ewigkeiten spielen, wären nicht nötig gewesen. Dafür war es der Tag der noch etwas unbekannteren Bands, die eine grössere Bühne verdient hätten. Vor allem auf der kleineren Eiger-Stage war dies offensichtlich, wurden dort die wildesten Partys gefeiert.