Bakraufarfita Records / VÖ: 1. September 2023 / Punk
100 Kilo Herz
Text: David Spring
Die Leipziger Punkrock-Band 100 Kilo Herz ist ein interessantes Phänomen. In erster Linie machen sie tollen Punkrock mit Bläsern und stark link-politischen Texten. So weit, so gut. Allerdings waren sie vor nicht langer Zeit auch in einen massiven #punktoo-Outcall verwickelt, der zum sofortigen Ausschluss eines Bandmitglieds führte, aber auch schwere Kritik auf den Rest der Band und ihren Umgang mit der Sache warf. Folgerichtig beschäftigt und verfolgt dies die Band bis heute stark. Und nun steht uns mit «Zurück Nach Hause» ihr drittes Album ins Haus.
Der Opener «Lichter aus» lädt uns gewissermassen ins Theater ein, in dem 100 Kilo Herz sowohl Akteure wie auch Zuhörer sind. Der Song haut ordentlich rein, die Reibeisenstimme von Sänger Rodi, die ungelogen fantastischen Bläser und der treibende, fette Beat lassen keine Zweifel daran, wer da am Werk ist. Schönerweise geht es auf gleichem Niveau weiter. «Station 30» ist vielleicht einer der besten Songs überhaupt, das Thema die Missstände, mit denen Pflegepersonal weltweit nicht erst seit Corona zu kämpfen hat. Die heftige Textzeile «Kein Mensch weiss so gut wie du, niemand kommt hier lebend raus.» macht betroffen und wütend.
100 Kilo Herz haben trotz all dem Tumult nicht verlernt, den Finger in die Wunde unserer Gesellschaft zu stecken und schwierige Themen anzusprechen. Sei es der stetig gefährlicher werdende Rechtsruck in «Keine Zeit für Angst» oder häusliche Gewalt in «Eine Hölle in Pastell», die Songs schürfen tief. Dabei werden sie durch abwechslungsreiches und kreatives Songwriting sowie unbändige Wut und Energie den schwierigen Themen mehr als gerecht. Der zweite Teil des Albums fokussiert sich vermehrt nach innen. Pate dafür steht die grossartige Single «Spiegel», die eindringlich und verdammt effektiv thematisiert, wie einfach es heute ist, sich und die eigenen Wünsche und Sehnsüchte immer mehr zu verlieren. Textlich wie musikalisch liefern 100 Kilo Herz hier ab, wie noch nie zuvor.
Was an keiner Stelle thematisiert wird, ist der Vorfall mit ihrem Ex-Gitarristen und den belegten Vorwürfen von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch. Nach langem hin und her komme ich zum Schluss, dass das wohl besser so ist. Zum einen, weil die Thematik meiner Meinung nach schlicht viel zu wichtig und komplex ist, um alles in den drei Minuten eines Songs unterzubringen. Zum anderen, weil 100 Kilo Herz augenscheinlich gewillt sind, aus den gemachten Fehlern zu lernen. Ich denke, wie die Band derzeit live, in Interviews und auf Social Media mit der Thematik umgeht, ist glaubhafter und wirksamer, als ein einzelner Song es gewesen wäre. Um diese Rezension nicht zu lang werden zu lassen, empfehle ich den grossartigen Podcast «Die Alltagsfeministinnen». Sonja Koppitz und Johanna Fröhlich Zapata sprechen in Episode 33 vom 13. Juni 2023 zusammen mit Flecki (Trompete) und Marco (Gitarre) und beleuchten den Fall sowie das Handeln der Band seit dann sehr ausführlich. Die Folge ist unter diesem Link zu finden.
Abschliessend lässt sich sagen, dass 100 Kilo Herz mit «Zurück nach Hause» ein exzellentes Album abgeliefert haben. Sämtliche Stärken der Band sind vollumfänglich da, vom fetten, einzigartigen Brasspunk bis hin zu den fantastischen Texten. Ob man die Band für die Fehler der letzten Jahre weiterhin abstraft oder der Meinung ist, dass sie eine zweite Chance verdient haben, müssen alle selbst entscheiden. Wenn am Schluss die letzten Töne von «Lichter an» erklingen, fühlt man sich nachdenklich, beschwingt, wütend, verstanden, verwirrt und gut. Und sowas schaffen doch eigentlich nur die besten Alben.